Egon Christian Leitner: Was jetzt, was tun? (Teil III)

in Literatur und soziale Gerechtigkeit

Der Grazer Autor Egon Christian Leitner wurde vom Literaturhaus Graz eingeladen, sich an dem gemeinsamen MitSprache-Projekt der österreichischen Häuser für Literatur zum Thema Literatur und soziale Gerechtigkeit in Form von monatlichen Text-Beiträgen zu beteiligen. Leitners Beiträge werden unter dem Titel „Was jetzt, was tun?“ von Jänner 2022 bis Mai 2022 auf der Homepage des Literaturhauses Graz veröffentlicht und gemeinsam mit Beiträgen der anderen Literaturhäuser auch auf der gemeinsamen Homepage mit-sprache.net vorgestellt. Das Projekt „Was jetzt, was tun?“ wird zudem bei einer Veranstaltung mit dem Autor am 1. Juni 2022 um 19.00 Uhr im Literaturhaus Graz der Öffentlichkeit präsentiert.


Eine ukrainische Mutter gesehen heute, die gelacht hat, weil ihr kleiner Bub gelacht hat. Der hat zu Boden geschaut, ist zu ihr gelaufen und hat eben gelacht, dabei irgendwas laut gesungen oder gesummt voller Freude. Und die Mutter hat ihn eben angeschaut und bei den Armen genommen und eben auch gelacht. Sie sagte, wie wenn verlegen, zu den Leuten von da hier, er mache die Sirene nach, und wurde daraufhin gefragt, warum sie da denn lachen. Aus Nervosität, antwortete sie. Mir ist dann eine Frau eingefallen, die bei einem Flugzeugproblem in den Turbulenzen ihr Kind ein paar Mal leicht in die Luft geschubst hat und schnell wieder sicher aufgefangen hat wie beim Spielen und Ist das lustig! gerufen hat jedes Mal dem Kind zu, Ist das lustig!, und beide haben gelacht dabei wie beim Spielen eben. So lachen können jetzt! So lachen können! Vertrage den Ernst der Lage nicht und die ernsten Gedanken und Gespräche der Leut’ dazu auch nicht. Alles, was aufregt, vertrag ich zurzeit schlecht. Mir kommt eben vor, die Leut’, wir halt, täten gut daran, es untereinander so zu halten wie das Kind und die Mutter da heut’ und die Mutter das Kind. Es käm’, kommt mir vor, mehr Vernünftiges raus bei allem, was uns da hier in den Sinn kommt. Aber wie man das jetzt überall im Alltag macht wie die schubsende und die lachende Mutter, auffangende, liebevoll konzentrierte, weiß ich nicht. Aufs Wichtigste auf der Welt ist die eben konzentriert, kommt mir halt vor. Zugleich mir dann wieder eingefallen eine Art Parade vor Jahren. Ein kleiner Bub hatte die Haare wie Putin geschnitten und auch sonst war seine Gestalt dem Präsidenten sehr ähnlich. Putin sieht ihn lange an. Legt beide Hände auf die Schultern des Jungen. Schaut ihm in die Augen. Hebt plötzlich dessen Hemd hoch und küsst den Jungen auf den Bauch, zwischen Nabel und Brust. Erhebt sich wieder und geht, und der Bub rennt weinend davon. Das war damals wirklich so. // Später dann heut’: Zwei Wochen Kampfkraft habe Putin nur mehr zur Verfügung, gibt der britische Geheimdienst bekannt. Zwei Wochen nur mehr! Ja, wenn das so ist: Das halten wir durch und dann ist es vorbei und die Ukraine ist frei. Und ich Trottel, ich Depp wollt’ sofort am ersten Kriegstag unter die Leut’ bringen, dass bitte kapituliert werden soll und die Ukraine bitte, bitte nicht halluzinieren soll, der Westen werde ihr wirklich zu Hilfe kommen, Entsatz bringen, Abhilfe schaffen. Und der Westen, der Westen, der solle bitte, bitte auch nix halluzinieren, wollte ich auch unter die Leut’ bringen. Kapitulieren, nicht halluzinieren! war meine Parole. Entweder sofort kapitulieren oder sofortiger NATO-Einsatz vor Ort! Da hätt’ ich also (hätt’ ich was zu sagen) schön was angestellt gleich am ersten Kriegstag mit meiner Losung. Hab mich dann wegen der Toten und wegen der Gequälten und wegen der Schutz suchenden Zehntausenden und Hunderttausenden und Millionen Flüchtenden und wegen der vernichteten Lebensgrundlagen durchgeschämt die zwei Wochen bis heut’ jetzt, dass ich nichts gesagt hab am Anfang gleich. Aber gut war’s, dass ich so feig war. Bloß zwei Wochen in Wirklichkeit jetzt noch und alles wird gut! Ist gut! Mir war bislang auch oft, wie man so sagt, von Herzen schlecht beim Nachdenken, der Westen, „wir“, rede der ukrainischen Bevölkerung ein, sie könne sich Putins selber erwehren und seiner befreien, und ich vermeinte, von der russischen Bevölkerung verlange der Westen dasselbe. Die halluzinieren alle, hab ich zu mir feig im Stillen gesagt. Die Ukrainer halluzinieren den Westen; und der Westen halluziniert sich selber und auch die NATO halluziniert sich selber und die EU halluziniert sich auch selber. Die Ukrainer geben infolge der vielen Halluzinationen überall da rundherum nicht auf; und halt grad deshalb nicht, weil die ganze freie Welt ihnen ja wirklich verspricht, dass sie auf ihrer Seite ist. Die Ukrainer hoffen daher irgendwie auf den Weltkrieg. Sozusagen. So blöd war ich die ersten zwei Kriegswochen lang! Obwohl ja im Fernsehen eh sofort immer gesagt wurde, der Putin habe einen 1-, 2-, 3-Tage-Blitzkrieg kalkuliert, diesen also offensichtlich verloren und müsse aus dem Ganzen möglichst schnell und ohne Gesichtsverlust wieder raus. Ich hab’s aber, dumm wie ich bin, nicht geglaubt, dass das wirklich so ist. Zumal’s ja in der Ukraine zuvorderst um den einzigen eisfreien, deshalb unverzichtbaren Meereszugang der Russen geht samt Versorgungskorridor auf dem Land. Der Kriegsberichterstatter Fritz Orter, welcher das nachgiebige Verhalten des Westens Putin gegenüber als verfehlt und fahrlässig wirklich immer benannt hat, rechtzeitig somit, hat das 2015 einmal so erklärt. In einem Auswege-Gespräch. So hieß das. Vom Helfen und vom Wohlergehen oder Wie die Politik neu und besser erfunden werden kann hat das Ganze damals ganz genau geheißen. Warum gibt es kein Schulfach, Unterrichtsfach, das Helfen heißt?, hat er damals gefragt. Und den ganzen damals frisch eingefrorenen Konflikt, frisch eingefrorenen Krieg der Russen gegen die Ukraine erklärt. Hat der wirklich. Kommt mir halt vor. 2015 wie gesagt war das. Jetzt bald sind’s Gott sei Dank bloß nur mehr die zwei Wochen und das war’s dann. Zwei ist außerdem irgendwie supereinfach für die Seele! Tut der psychologisch gut wegen der Kürze und der Übersichtlichkeit. Man sieht sich raus, sozusagen. Im Ersten Weltkrieg ist zu unseren Soldaten zwar am Anfang auch gesagt worden, in zwei Wochen sind sie wieder daheim. Die ukrainischen Flüchtlinge jetzt glauben das auch oft. Aber bei ihnen jetzt wird’s jetzt ja wirklich so sein. Zwei ist überhaupt super. Z. B. hat heut’ der Tesla-Chef, der Musk (fürs bedingungslose Grundeinkommen für alle ist der auch, super ist der), den Putin zum Zweikampf herausgefordert. Zum Zweikampf! Um die Ukraine zum Zweikampf. Total isoliert wird Putin sowieso. Das ist auch super. Denn vor einem Verbrecher darf man nicht kapitulieren! Niemals! Vor einem Verrückten auch niemals! Vor einem solchen Hitler! Was war ich für ein schlechter und dummer Mensch, dass ich fürs sofortige Kapitulieren war! Oder halt für den sofortigen NATO-Einsatz vor Ort! Entweder oder! So war ich im Hirn. Entweder weiße Fahne oder es ist Krieg und wir NATO und so gehen alle hin! Sofort! Durch meine Stupidität wären wir also seit zwei Wochen allesamt atomar. Oder versklavt. Gott sei Dank haben die stattdessen alles richtig gemacht: die NATO, die EU und die USA, alle jeweils Zuständigen halt; alles richtig gemacht! Ich hingegen hab mir die zwei Wochen lang dumm und falsch Folgendes eingebildet, nämlich: Wie sollen bei uns da hier diejenigen, welche die Politik gar nicht gut können, jetzt den Krieg können? Der ist ja doch noch viel, viel schwerer als die Politik. Weil: Die Politik ist ja dafür da, dass kein Krieg ist unter den Menschen und dass es den Menschen wohl ergeht. Präventiv muss die also immer sein. Vorsorgend. Hab mich zum Glück in den Politikschaffenden da hier bei uns von Grund auf getäuscht: Die Unsrigen können’s wirklich. Zwei Wochen, alles wird gut! Juhu! Nix Afghanistan, nix Bosnien! Nix Kabul, nix Sarajevo! Juhu, juhu! Übrigens Corona – gegen das sind wir ja auch im Krieg – die Explosion ist angeblich in 6 Wochen vorbei. Dann geht’s uns so gut wie in Israel. Die dort haben keine Probleme mehr, hat’s heut’ geheißen. Vor 6 Wochen hatten die Leut’ dort noch unsere Probleme jetzt grad, jetzt aber eben haben die dort keine mehr, und wir werden daher eben in 6 Wochen auch keine mehr haben und alles ist überstanden. Die diesbezügliche Politik hierzulande und in der EU ist folglich kein Blödsinn. Alles durchgeseucht demnächst in Bälde und verherdenimmunisiert. Nein, nein, niemand wird verheizt, keinerlei Personal im Sozialstaat. // Friedensberichterstatter, einzig, würde er nur mehr werden wollen, nicht Kriegsberichterstatter, sagt Fritz Orter oft. In 14 Kriegen Kriegsberichterstatter ist der gewesen auf dem Globus und den Kontinenten. Als Krisenberichterstatter die beginnenden Konflikte öffentlich analysieren und die Menschen in den sicheren Staaten rechtzeitig dafür interessieren, was sowohl dort in den gefährdeten wie hier in den stabilen im Guten getan werden kann, damit es nicht zu den Eskalationen und Bluttaten ohne Ende kommt, will er. In seinem zweiten Leben jetzt sozusagen. Für ihn war das Geistige eine Überlebensfrage, die Musik, die Gedichte waren das, die Lavant, Mozart. Die Gedichte auch dafür gut, dass die Fassung und der Halt nicht verloren gehen, alles wesentlich gesagt werden kann und kurz und genau und schnell, geistesgegenwärtig eben. Mozarthören in einem Kellerloch in Sarajevo, unter Beschuss und eingekesselt, als Beweis dafür, dass es jenseits dieses Wahnsinns etwas gibt, das sich zu leben lohnt. Die Zerstörung der Vernunft nicht zulassen, darum geht es. Ob’s geht, ist eine andere Frage. Gleichzeitig und ungleichzeitig alles, und alles wiederhole sich, an jeweils verschiedenen Orten oder sogar an denselben. Was im Journalismus, so Orter, aber trotzdem fehlt, ist, dass Entwicklungen, Fehlentwicklungen, vorzeitig und rechtzeitig benannt und berichtet werden, was ja durchaus möglich wäre. Es ist ja zu durchschauen und man kann es kapieren. Der Kriegsjournalismus müsse präventiv und prophylaktisch sein und werden, Friedensarbeit eben. Seine Weise der Berichterstattung habe er immer als Opferberichterstattung verstanden. So Hilfe zu ermöglichen mitversucht. Ärzte ohne Grenzen und z. B. die österreichischen Notfallchirurgen Werner Vogt, den Pflegeanwalt, den Sozialstaatsvolksbegehrler, oder Vogts Primar Poigenfürst hat Orter bewundert, als er sie im freiwilligen Einsatz in Kriegsgebiet wirklich kennen gelernt hat. Und wie die aus allem das Bestmögliche gemacht haben. Was in Afghanistan geschehen wird, wenn die Amerikaner abziehen, hat er Jahre vor jetzt benannt; wie die einen wegkönnen, die anderen nie. Die Ukraine hat er wie gesagt auch erklärt: In der Ukraine geht es ganz einfach um die Flottenverbände auf der Krim. Das ist der einzige eisfreie Zugang. Obwohl die Russen die Krim ohnehin schon okkupiert hatten, war dennoch deshalb kein Friede, weil sie einen Korridor brauchen, und der geht durch die Ukraine. Die Truppen auf der Krim müssen ja versorgt werden. Das geht nicht andauernd per Flugzeug. Und der NATO-Westen will natürlich amerikanische Politik umsetzen. Die Amerikaner wollen die einzige Weltmacht bleiben. Sie ziehen 40% ihres Militärpotentials wegen China im Pazifik zusammen, den Rest vor dem russischen Korridor. Und im Kosovokrieg ist es ebenfalls um die militärischen Interessen gegangen. Kosovo ist die größte NATO-Basis in Südosteuropa. Die Einflussmacht der Russen soll verringert und verhindert werden. Das Aufeinanderprallen der Russen und der USA war da durchaus gefährlich. Damals sind dort völlig unerwartet russische Truppen gelandet. In Priština. Der damalige Kommandant der NATO hat gesagt, wegen der paar russischen Soldaten riskiere ich keinen Krieg. Glück gehabt damals. Vor einem Dritten Weltkrieg hat Orter immer Angst gehabt, glaube ich. Die Tochter des Arztes, der unmittelbar nach dem Attentat von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger diesen zu beschauen hatte, hat Orter den Dritten Weltkrieg prophezeit. Krieg, hat Orter auch gesagt (von Karl Kraus ist das), ist zuerst die Hoffnung, dass es einem selber besser gehen wird, später dann die Erwartung, dass es dem anderen schlechter gehen wird, wieder später die Genugtuung, dass es dem anderen auch nicht besser geht als einem selber, und zum Schluss die Überraschung, dass es beiden schlechter geht. So sei der seelische Ablauf. Der Krieg verändere die Menschen völlig. Das mache ihm, Orter, Angst. Seine Angst hat Orter immer zugegeben und gesagt, ohne die sei man wirklich in Gefahr umzukommen. Und wie das ist, wenn mitleidlos schreckliches menschliches Leid im Fernsehen nicht gezeigt werden darf, um ja das Publikum nicht zu schockieren oder der Politik wegen; und dass, reklamepsychologisch, andererseits die Not und Furcht das Publikum verwirrt und hilflos und dadurch gierig macht nach den Werbeblöcken und dem Geld und dem Kaufen, weil ja Konsumieren die Aufregung stillt. Hat der alles gesagt, 2015 z. B. Ist z. B. jetzt so. // Warum gibt es in der Schule kein Unterrichtsfach, das Helfen heißt, und warum im Fernsehen kein Friedensprogramm? In der Schule ein Lernfach, das Helfen heißt, und im Fernsehen ein paar Stunden pro Woche ein Friedensprogramm! Auf jedem Sender die Analysen, was man wo tun kann, und in jeder Schule Helfen als Pflichtfach für da hier. Und endlich ein rechtzeitiges, präventives Sozialstaatsvolksbegehren zur Sicherung der Grundversorgungen, eine präventive Sozialstaatsbewegung zur Versorgungssicherheit, darum ist es gegangen, seit Jahren, Jahrzehnten. Ums rechtzeitige österreichische Sozialstaatsvolksbegehren wie gesagt, ums Helfen als rechtzeitiges Schulpflichtfach und um ein rechtzeitiges permanentes Friedensformat im ORF. So viel wäre erspart geblieben! So viel! Alles wäre einfach gewesen. Ganz einfach war’s. Ist’s. Eine Dokumentation wollte Orter einmal herstellen, handelnd davon, wie die Schicksale waren und sind. Was aus den Menschen wurde. Zum Beispiel der Mann, der in seinem Haus zu verbrennen drohte. Weil Orters Kamerateam filmte, wurde dieser Mann von den örtlichen Einsatzkräften gerettet, sonst hätte man ihn verbrennen lassen. Oder zum Beispiel ein Kind mit weggefetzten Beinen, der Vater hat es in den Armen gehalten; infolge der Anwesenheit des Orterschen Kamerateams und des Nachrichtenberichts wurde der Bub ausgeflogen und behandelt und lebt. Und zum Beispiel auch hat gerade Orters Berichterstattung aus Rumänien während der Revolution, vor allem aus Temeswar, dazu beigetragen, dass die österreichische Rumänienhilfe überhaupt möglich und hilfreich war und es bis heute blieb. Und wenn Orter zum Beispiel die beklemmenden Sprüche wiedergibt, die diverse Mordende immer wieder zu ihm gesagt haben: Wir bringen dich nicht um, du gehörst zu uns oder etwa Wir bringen nur die um, die uns umbringen, hätte Orter durch diese beklemmende Beschreibung der Kriegspsychologie Wesentliches zur Herstellung von Frieden beizutragen. Weil er in der Tat, einzig den Menschenleben verpflichtet, von Berufs wegen unideologisch berichtet hat, daher z. B. eben von der größten NATO-Basis in Südosteuropa im Kosovokrieg und vom den russischen Flottenverbänden unverzichtbaren Ukraine-Korridor. Alles war wie gesagt einfach. Ist’s.

Egon Christian Leitner, geboren 1961 in Graz, Studium der Philosophie und Klassischen Philologie. Kranken- und Altenpflege, Flüchtlingshilfe. Bourdieu-Spezialist, lebt und arbeitet als freier Autor vor allem in Graz. Literaturförderungspreis der Stadt Graz 2013 und Literaturstipendium der Stadt Graz 2016, KELAG-Preis beim Bachmannwettbewerb 2020. Zuletzt: Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden. Sozialstaatsroman, letzter Teil (Wieser 2021).