Roiss © detailsinn.at
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Stephan Roiss: Das Alles

in Out of joint

Was nun? Was tun? Was sollen wir tun? Nun. Dasselbe, was wir immer tun sollten. Darüber staunen, dass überhaupt irgendetwas ist, und nicht vielmehr nichts. Das wäre ein guter Anfang. Das ist ein guter Anfang. Immer.

Das absolute Nichts. Nicht Stille oder Leere oder opake Finsternis. Nein. Gar nichts. Stabile Perfektion – durch Abwesenheit; durch totale Abwesenheit; durch Abwesenheit, die auch noch die Abwesenheit von Abwesenheit miteinbegreift. Keinerlei Wirklichkeit. Das Nichts. Ultimativ simpel. Nada. Finito.

Aber überraschender Weise ist nicht das Nichts, sondern das Sein. Und das Sein hat sich nicht etwa für eine schlichte Form entschieden (eine schwarze Kugel umgeben von weißem Raum und niemals verändert sich etwas); stattdessen ist das, was ist, auch noch grenzenlos komplex und permanent im Wandel. Ungeheure Zeitspannen, gigantische räumliche Ausmaße – und darin Myriaden verschiedener Dinge und Verhältnisse und Kräfte und Ereignisse – und – und – und. Was geschieht nicht alles innerhalb einer Viertelsekunde in diesem Universum. Und wer weiß, ob es nicht noch weitere Universen gibt, gab, geben wird, vielleicht sogar unendlich viele.

Doch selbst wenn wir der Erde treu bleiben und uns auf die nähere Umgebung, unseren Planeten, die Gegenwart beschränken: die Mysterien und Mirakel bleiben zahllos und je und je überwältigend. Dass dieser Tisch existiert, ist der helle Wahnsinn. Die Luft in diesem Raum: der helle Wahnsinn. Meine Nasenhaare: der helle Wahnsinn. Damit allerdings nicht genug. Es gibt nämlich nicht bloß Tische, Luft und Nasenhaare, Granitblöcke, Magmaströme, Rasenmäher, Heliumatome und Gebirgszüge. Es gibt auch Entitäten, die etwas wahrnehmen; die Bewusstsein aufweisen; die also nicht nur sind, sondern für die obendrein der Rest der Welt auf irgendeine Weise ist; Fuchsien und Füchse beispielsweise. Seiendes mit einer Innenwelt; mit einem Innen, das nicht räumlich gedacht werden darf; Subjekte. Nicht zu fassen. Und dann auch noch so etwas wie den Menschen: Dem erscheint die Welt nicht bloß, der weiß auch noch darum, kann darüber nachdenken und darüber sprechen. Komplett verrückt. Fulminant absurd!

Proseminar Philosophie, erstes Semester? Mag sein. Herzig naiver Pathos? Mag sein. Gequirlte Hippiescheiße? Mag sein. Ändert aber alles nichts daran: Geistsprengende Rätsel, überall, jeden Tag aufs Neue.

Wer sich über das Alles wundert, sieht sich hineingeboren in einen Zusammenhang, der ihn übersteigt, den er unmöglich vollständig begreifen kann. Wer sich über das Alles wundert, die hält nichts für selbstverständlich. Keine Silbertanne, keinen Leguan, keinen Quarzsplitter, keinen Hammer, keinen 3D-Drucker, keinen Programmcode, keine Regierungsform, keinen Strahl der Sonne, keinen Wassertropfen.

Wer sich über das Alles wundert, erfährt jeden Menschen als wundersam widerständiges Geheimnis, das zwar beziffert, vermessen, abgewogen und beurteilt, aber niemals gänzlich erschlossen werden kann.

Wer sich über das Alles wundert, die deutet Demut nicht als Chiffre für Schwäche und Selbstverkleinerung. Wer sich über das Alles wundert, weiß was Würde ist, selbst wenn er den Begriff nicht kennt.

Wer sich über das Alles wundert, wird sich schwerlich wie eine Gottheit gebärden, welcher die Mitwelt zur freien Verfügung steht. Ein kolossal perverser Kraftakt wäre von Nöten, um ein unergründliches Geheimnis, das man als solches erkannt hat, absichtlich zum bloßen Material zu degradieren, es auszubeuten, zu verletzen, zu misshandeln, zu ermorden.

Ein guter Anfang also. Sich über das Alles zu wundern. Darüber zu staunen, dass überhaupt irgendetwas ist, und nicht vielmehr nichts. Wer will, kann eine religiöse Haltung daraus ableiten. Muss nicht sein. Aber nahezu zwingend leitet sich daraus eine Haltung ab, aus der heraus wir allem, was ist, Anerkennung entgegenbringen. Ja, heitere Ehrfurcht.

In der Begegnung mit dem, was uns umgibt, sei es die Landeshauptfrau, ein Rhododendron oder eine Bastelschere, können wir zweifach die Balance verlieren, zwei unterschiedliche Extrempositionen einnehmen: Wir können Spielbälle oder Tyranninnen/Tyrannen mimen. Wir können uns selbst für wertlos und nichtig erklären & dadurch das Gegenüber erhöhen und uns ihm komplett unterwerfen. Oder wir können uns selbst aufblasen, als Maß der Dinge gerieren & dadurch das Gegenüber erniedrigen und ihm jegliches Eigenrecht absprechen.

Und was für den Umgang mit Landeshauptfrau, Rhododendron und Bastelschere gilt, können wir auch auf unsere Beziehung zu Texten übertragen.

So können wir etwa lesen – und das Gelesene ohne Umschweife glauben und bejahen, gleichsam a priori für großartig, für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, für Gottes Wort halten – oder wir können lesen und alles immer schon besser wissen, dem Text keine Chance geben und dessen Bemühungen im Vorhinein für lächerlich und minder erachten.

Wir können schreiben – und dabei ausschließlich Typen, Modelle, Idole zur Anwendung bringen, das Eigene verbergen beziehungsweise um das Eigene überhaupt nicht wissen wollen – oder schreiben und meinen, wir machten alles von Grund auf neu, glorios, brillant, vor uns die Sintflut und nach uns ebenfalls.

Egal ob wir uns der Sprache verschließen oder uns ihr so weit öffnen, dass wir selbst vollständig verschwinden: Wir treten so oder so nie in einen echten Dialog mit ihr. Wir führen keine Auseinandersetzung, halten nichts in der Schwebe, kennen bei Lichte betrachtet das Resultat des Lesens bereits, kennen bei Lichte betrachtet das Resultat des Schreibens bereits. Wir widmen der Sprache bloß scheinbar Aufmerksamkeit und Zeit, und verunmöglichen das Staunen: über sie, über uns, über alles.

Literatur ist Sprachkunst. Eigentlich. Sie tut schlecht daran, sich damit zu begnügen zu informieren, zu unterhalten, spannend und formal makellos zu sein. Denn dann ist sie im besten Fall eine elaborierte Spielart des Kitsches. Literatur tut genauso schlecht daran – unter dem Deckmantel des Experimentellen, Advantgardistischen, Mutigen – zur Produktionsstätte von narzisstischem Geschwurbel zu verkommen, in der man Sprache als tote Knetmasse behandelt, mit der kreative Kinderlein willkürlich verfahren dürfen. Denn dann ist sie im besten Fall hohle, effekthaschende Hybris.

Möge Literatur die Sprache ausloten, ihren Ausgestaltungen und Kräften in der Tiefe und an der Oberfläche begegnen, von ihren Schätzen und Verirrungen Zeugnis ablegen, stets im Bewusstsein um die eigene Perspektive, mit einer eigenen Stimme. Und wir werden staunen über das Alles, denn Sprache ist unter all den Wundern mit das größte; Sprache ist vorgängig, ist immer schon, wird immer schon, sie konstituiert und vermittelt unsere Wirklichkeiten, ist für uns untrennbar mit Welt verbunden. Das jedoch erfordert ein Durchatmen. Atmenlassen. Ruhe. Otium. Offene Weite. Das Gespräch mit der Sprache braucht Zeit, Staunen braucht Zeit —

Dichtet schneller. Es ist dringend. Bringt die Gegenwart in Form. Füttert die Eule der Minerva mit Amphetaminen. Sie muss ihren Flug immer schon begonnen haben. Bis zur einbrechenden Dämmerung können wir nicht warten. Der Zustand der Welt verlangt Texte, die so, so und so, sowohl so als auch so, vor allem aber so sind. Literatur muss reagieren. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Am besten gestern schon. Jetzt. Strampelt euch ab – macht Milch zu Butter auf Höhe der Zeit. Der drohende Verlust der Relevanz, die Moden, die Popkulturen, das Tempo der Medien, die vita hyperactiva als bestimmendes Lebensprinzip und die kollektive Depression als dessen Kehrseite, der ökonomische Druck, die globalen Verhältnisse. Veröffentlicht mehr als ihr im Stande seid zu schreiben und schreibt rastlos, ohne Visier, ohne Filter, so weit es geht ohne Geist. Feuert aus allen Rohren. Ballert. Lasst eine Bemerkung fallen – greift ein aktuelles Thema auf. Ballert, ballert. Es ist die heilige Pflicht aller, zu allem etwas zu sagen. Ballert, ballert, ballert. Nichts ist für die Ewigkeit. Weh dem, der in seinen Schriften nicht Bezug nimmt auf X, nicht sensibel ist für Y und offenbar von Z noch nie etwas gehört hat. Weh der, die das ABC beherrscht. Erklärt euch einverstanden mit dem permanenten Zugriff auf eure Position – durch Mensch und Maschine – und lasst einzig und allein eure Befindlichkeit darüber bestimmen, wo ihr euch befindet. Seid gläsern. Befeuert Kontroversen. Hysterisiert euch. Sprache lebt von Anlassfällen. Fühlt euch angegriffen. Von allem und allen. Nirgends gedeiht Sprache besser als in unmittelbarer Nähe von Scharmützel, Stress und Paranoia. Findet Markenzeichen. Wer einen life style zu promoten hat, muss sich nicht kümmern – weder um das Leben noch um den Stil. Es schwingt sich dort die Sprache zu ihrer wahren Größe auf, wo — Ha! Die Rede eines Narren. Denn die Ära der Sprache in der Literatur ist lange schon beendet. Ihr seid so frei. Nun habt ihr die Wahl. Zwei Optionen: Kitsch oder Hybris. So oder so: Verweigert das Gespräch mit der Sprache.

Entscheidet ihr euch für den Kitsch, so verweigert ihr das Gespräch mit der Sprache, indem ihr selbst niemals das Wort ergreift. Wendet euch der Sprache ausschließlich in ihren bereits geronnenen Gestalten zu und behelligt die Sprache weder mit Rückfragen noch mit Widerrede und belastet euch nicht mit der Suche nach einem eigenen Standpunkt, einer eigenem eigenen Tonfall, einer eigenen Sprechweise. Macht euch winzig, ordnet euch dem Überkommenen unter. Wiederholt artig das tausendfach Erprobte. Fügt dem Bisherigen nichts hinzu. Nichts von Belang. Gebt ihm lediglich einen neuen Anstrich. Glaubt der versteinerten Sprache blind, taub, stumm, geschmacklos, frei von Gefühl. Nehmt jedes Wort als Befehl hin. Nickt alles ab. Seid folgsam. Die Sprache ist eure Gebieterin. Führt ihre Befehle aus. Arbeitet nach ihren Mustern. Erstarrt in ihrem Schatten. Wie es ihr beliebt. So wie wir im Leben erstarren, uns klein machen in der Welt – und dadurch nicht nur uns, sondern die anderen Menschen, die Tiere, Pflanzen, Dinge ausliefern. Fürchtet euch nicht. Es gibt keinen dialektischen Rückschlag. Wir werden unversehrte Gnome bleiben. Das Haus des Seins ist eine Festung, deren Kerker Platz für alle bietet. Begriffsarbeit ist tot. Es lebe das Wiederkäuen der Worte. Nehmt nichts wahr. Vor euch haben andere bereits gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gespürt und ihren Erfahrungen soliden Ausdruck verliehen. Beobachtet nicht. Ihr habt ausreichend angelesen, genügend überflogen. Findet keine unverbrauchten Bilder. Braucht erst die verbrauchten auf. Verwendet für das, was ihr sagen wollt, keine Form, die das Zu-Sagende spiegeln und stützen würde. Verwendet eine Form, die lediglich Vehikel ist. Neutral, charakterlos, austauschbar. Ich empfehle euch Romane zu schreiben. Schlagt euch die Kunst aus dem Kopf, beherrscht euer Handwerk. Geht kein Wagnis ein, aber macht den Anschein ebendas zu tun. Macht keine Fehler, bleibt gut verkäuflich. Erzeugt hübsche Gartenzwerge aus Buchstaben, die sich Feuilleton-Leser:innen gerne ins Regal stellen. Pflegt euer Repertoire an Formeln und Schemata. Fabriziert Figuren, vermarktet unique selling plotpoints, und zwischendurch: twittert den Heros in tausend Gestalten. Leider nicht mehr lieferbar. Was immer ihr auch tut. Kocht ganz dünne Suppen, übt die Posen der Unantastbaren ein und haltet euch für in jeder Hinsicht passend. Verkauft Exempel, Exemplarisches, Exemplare. Auf ein Neues. Immer wieder. Bleibt äußerlich. Ihr dürft getrost darauf vertrauen, dass es Eindruck schindet. Vergesst zu atmen.

Entscheidet ihr euch für die Hybris, so verweigert ihr das Gespräch mit der Sprache, indem ihr die Sprache nicht zu Wort kommen lasst. Hört nicht auf sie. Lauscht den Wörtern nicht, lauscht den Worten nicht. Lasst euch nichts von ihnen sagen. Sie haben nichts zu sagen, ihr hingegen alles. Sie sind eure Werkzeuge, weiter nichts. Erforscht die Grammatik nicht, ihr sollt sie verwenden und verwerfen. Begreift Sprache – als bloßes Material. Sie besitzt keinen Wert an sich, keinen Wert für sich. Nichts Wesenhaftes, nichts Wesentliches ist ihr eigen. Sie steht euch zur Verfügung. Nutzt sie aus. Schlachtet sie aus. Weidet sie aus. Wie es euch beliebt. So wie uns die Mitwelt zur Verfügung steht. Die Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge. Fürchtet euch nicht. Es gibt keinen dialektischen Rückschlag. Wir werden unversehrte Gottheiten bleiben. Das Haus des Seins ist unser Eigenheim. Begriffsarbeit ist tot. Es lebe der faule Zauber. Nehmt nichts wahr. Das, von dem ihr noch keine Kenntnis besitzt, ist notwendig falsch. Beobachtet nicht. Seid euch selbst genug. Findet keine unverbrauchten Bilder. Erfindet sie. Ex nihilo. Lasst euch nicht davon beunruhigen, dass eure Bilder allesamt schief sind. Denn niemand wüsste noch zu sagen, was gerade ist. Verwendet für das, was ihr sagen wollt, keine Form, die das Zu-Sagende spiegeln und stützen würde. Verwendet eine Form, die eurer bloßen Willkür entsprang. Autistisch, grell, vermeintlich einzigartig. Ich empfehle euch Gedichte zu schreiben. Schreibt Gedichte und schätzt euch glücklich, denn es gibt keinen Markt, nur ein paar hochdotierte Preise. Verwirklicht keine Ideen, sondern euch selbst. Zimmert lyrische Attrappen. Montiert eure Kaffeehausnotizen, würzt eure Verse mit Fremdworten, Fachtermini und Phrasen aus anderen Sprachen. Macht euch keine Sorgen, es muss nichts heißen. Schreibt Theaterstücke und verschanzt euch im Getümmel einer falsch verstandenen Postmoderne. Bringt eure Recherche auf die Bühne, collagiert Zitate, imitiert Sprechakte. Den Rest erledigen Bühnenbild, Kostüm und Körperlichkeiten, die bildungsbürgerliche Spektakelmaschine kann zwar keine Sprache, dafür Nebel und Laser, Blitz und Donner, Schall und Rauch. Verwischt ihr Genregrenzen, so tut dies nicht, weil es schlichtweg geschieht, der Text es verlangt, der Text eben so und nicht anders sein muss. Tut es, um euer Distinktionsbedürfnis zu stillen. Ihr allein habt Adorno richtig verstanden. Was immer ihr auch tut. Kocht ganz dünne Suppen, übt die Posen der Unangreifbaren ein und haltet euch für außerordentlich wichtig. Verkauft Eruptionen. Auf ein Neues. Immer wieder. Drückt, speit, scheißt euer Innerstes aus. Ihr dürft getrost darauf vertrauen, dass es überragend ist. Ihr habt den Begriff des Genies verabschiedet, aber wisst doch insgeheim, dass ihr alle je und je ein eben solches seid. Ihr seid Genies. Mit eurer Geburt erst wurde die Welt erschaffen. Vergesst zu atmen.

Ihr seid so frei. Nun habt ihr die Wahl. So oder so: Verweigert das Gespräch mit der Sprache. Füttert die Eule der Minerva mit Amphetaminen. Sie muss ihren Flug immer schon begonnen haben. Bis zur einbrechenden Dämmerung können wir nicht warten. Was sonst sollten wir tun? —

— Nun. Dasselbe, was wir immer tun sollten. Darüber staunen, dass überhaupt irgendetwas ist, und nicht vielmehr nichts. Das wäre ein guter Anfang.