Das unrettbare Decamerone
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Im vergangenen Herbst sprach die katholische Kirche den Italiener Carlo Acutis selig. Schon bei seiner Geburt gab es Zeichen und Wunder: der Kuchen, den die Mutter zur Taufe kaufte, hatte die Form eines Lamms. Lamm Gottes.
Carlos erstes Wort: Daddy.
Etwa ein Jahr nach Carlos Tod empfängt der Leiter des Amts für Selig- und Heiligsprechungen dessen Mutter. Sie erzählt, wie gut Carlo gewesen sei, wie großzügig, wie bescheiden, ein vorbildlicher Christ. Sie bittet den Leiter, ihren Sohn zum Heiligen zu machen. Carlos Familie ist reich.
Seliggesprochen wird nur, wer entweder für seinen Glauben gestorben ist oder ein amtlich bescheinigtes und wissenschaftlich unerklärbares Wunder vollbracht hat.
Seine Cousine erzählt: „In Assisi sind wir in der Altstadt herumgerannt. Wir waren Batman, den Carlo über alles liebte, oder Indiana Jones. Wenn wir an einer Kirche vorbeikamen, lief Carlo hinein und machte ein Kreuz.“
Als Carlo sieben oder acht war, fangen er und sein Haushälter an, regelmäßig Essen an Obdachlose zu verteilen. Er spendet sein Taschengeld dafür. Sein Lieblingsessen: Spaghetti con Alio, Oglio e Peperoncino. Jeden Abend schaut er seine Lieblingssendung die Simpsons. Sein Lieblingsverein: AC Mailand.
Für das notwendige Wunder sorgt der brasilianische Priester Marcelo Tenòrio. Er hat eine Vorliebe für Waffen und unterstützt den rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro, Spitzname Padre fascista. Er lässt sich eine Reliquie von Carlo geben: ein Stück Pullover. Ein dreijähriges Kind, von den Ärzten aufgegeben, berührt den Stoff und gesundet augenblicklich. Die Identität der Ärzte, die das Wunder bezeugen, muss geheim bleiben.
Carlo stirbt mit 15 Jahren an einer seltenen Form von Leukämie. Für eine Heiligsprechung ist ein zweites Wunder nötig. Man ist zuversichtlich, dass sich eines finden wird lassen. Carlo soll dem Vernehmen nach Schutzheiliger des Internets werden. Auf seinem Computer fanden sich keine Hinweise auf den Konsum unzüchtiger Bilder. Eine reine Seele.
In Boccaccios Decamerone gibt es einen durch und durch schlechten Menschen, der auf dem Totenbett die unglaublichsten Lügen über seinen gottgefälligen Lebenswandel erfindet. Ihm wird vom Beichtvater geglaubt. Nach seinem Tod wird er heiliggesprochen.
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Im Decamerone geht es um Frauen, die ihren Männern teils vor deren Augen Hörner aufsetzen, sich mit Mönchen vergnügen, die bei Boccaccio anscheinend nur dann zölibatär leben, wenn sie beschränkt sind, um reiche, einfältige Männer, die unglaubliche Prüfungen auf sich nehmen, um selig- oder heiliggesprochen zu werden oder eine abenteuerliche Reise, die eine Sultanstochter in die Arme von neun Männern treibt, bevor sie als Jungfrau in die Ehe geht. Die Lust der Frauen wird offensiv herausgestellt, was nicht nur Männerprojektion sein dürfte.
Wer allerdings die gesamten 900 Seiten liest, wird sich zusehends ermattet fragen, was denn an diesen großteils grobschlächtigen Geschichten Weltliteratur sei. Ich wollte ja eine Paraphrase auf einige von ihnen schreiben, aber es wollte sich kein gelungener Versuch einstellen. Auch der Plan, die Geschichten parodistisch mit zeitgenössischer Hochleistungswettbewerbsliteratur zu kreuzen, ließ sich nicht umsetzen. Eine Dokumentation dieses Scheiterns zu verfassen, schien mir auch nicht lohnend. Obwohl diese Unmöglichkeit einer Geschichte vielleicht die jetzt einzig richtige Art von Text sein könnte… Aber es gibt keinen richtigen Text im falschen.
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Es müsste möglich sein, das Leben, das ja für sich nichts wirklich Einzigartiges hat, immer nur im Rahmen der menschlichen Gattung sich entfalten kann, mit dem Material, das andere für ihr Leben bereitgestellt haben, darzustellen.
Und wenn ich versuche, selber etwas zu erzählen? Das möchte ich nicht hören, ich kenne das schon. Mit verstellter Stimme könnte ich dennoch meine Erinnerungen ausbreiten. Diese verstellte Stimme würde mein Eigentliches hervorbringen. Aber ich kann meine Stimme nicht verstellen. Und so bleibe ich weiter auf den anderen angewiesen, der sich launisch ziert.
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Im Abendatem (um Abendhauch zu vermeiden) schlendere ich die Mur entlang (um etwas Greifbares mitzuteilen), ich bin jetzt am Zug, ich bewege Springer und Turm in eine Angriffsstellung, ich verwerfe Geschichtsdeutungen. Ich ersetze den Raum durch mich, die Zeit durch Sprache und diesen Satz durch ausgelassenen Ausdruckstanz. Ich beschließe, von nun an rein gestisch zu arbeiten. Diesen Vorsatz halte ich einen Satz lang ein.
Ich gehe durch einen Mondpark. Es geht sehr freizügig zu. (Hier fehlen wieder die hüfterwärmenden Beschreibungen.) Wenn ich in Begleitung bin, besteht diese stets aus Walter Serner. Mag sein, dass er nicht so aussieht, mag sein, dass er eine Frau zu sein scheint, es ist verlässlich niemand anderer als er. Er gibt dir immerfort Ratschläge, aber hüte dich, sie zu befolgen. Ansonsten lacht dir die sofortige Verhaftung oder Abschiebung. Ich verfalle, wenn ich mit ihm unterwegs bin, sofort in seinen Duktus. Er liebt es, wenn er diese Macht über mich hat. Er weiß nicht, dass er tot ist. Das ist sein reizendster Charakterzug. Ich weiß nicht, ob er in allem geirrt hat oder seine Irrtümer Methode sind, alle anderen erfolgreich zu verwirren. Ich frage mich immer, warum er sich an mich hält, wo ich ihm doch keinen Vorteil einbringe. Aber was weiß ich, was ihm vorteilhaft erscheint.
Serner trägt immer mehrere kleine Koffer mit sich herum. Das ist möglich, weil sie so gut wie nichts enthalten. Es geht ihm immer um einen Eindruck, den er erwecken möchte. Besser wäre es, er würde einen Dienstmann bezahlen, ihm seine fragwürdige Habe nachzutragen. Über Geld verfügt er freilich nicht, all seine Geschichten über Betrügereien und Überfälle sind nichts als das: Geschichten. Ich stelle ihn mir immer mit einem Monokel vor, obwohl er in meiner Gegenwart keines trägt. Auch hat er nie Kontakt zu Gesetzesbrechern, er unterhält sich mit Rechtsgelehrten. Ich glaube, er hält auch mich für einen. Menschen mit ausgeprägten Überzeugungen glauben nur sich selber. Jetzt möchte er in einem Hotel Quartier nehmen, dem ersten am Platz. Aber in diesem Mondpark gibt es kein Hotel. Ich schlage ihm vor, das Riesenrad zu mieten, dann hätten wir immer frische Luft und wären ständig in Bewegung. Er geht nicht darauf ein, um seinen Anschein von Souveränität nicht zu gefährden. Er belehrt mich über andere Nationen, dabei ist er über Karlsbad und Wien kaum hinausgekommen. Jeden, der noch nicht im Weltall war, akzeptiere ich nicht als Reisenden. Nun lächelt er einer Mondparkwächterin zu, er hält sie für feinste Halbwelt, schon macht er Anstalten, sie nach ihrem Mietpreis zu fragen. Ich kann ihn nur durch outrierte Hustanfälle davon abhalten. Ich leide aber nicht an der Lunge, nicht einmal am Leben, Leid ist mir fremd geblieben. Serner fixiert mein gläsernes Auge, zieht mich in ein Gebüsch und knöpft mir die Hemdbrust auf. Dann versucht er mich aufzublasen, dafür benutzt er meinen Geschlechtswurm. Zum Glück ist dergleichen in Mondparks übliches Verhalten. „Diese paar Tropfen Samen erhalten mich die nächsten Stunden am Leben“, behauptet Serner. Mir aber werden sie fehlen, ich sollte sie einfordern.
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Die Liebe sprach mich an, ich antwortete ihr. Einen Anfall von Aufrichtigkeit wehre ich ab, er würde die Erfindung verunreinigen. Ich sitze hier und erinnere mich. Und nichts kann mich dazu bringen, auch nur ein Wort davon zu verraten. Stattdessen würde ich gerne Satz für Satz etwas anderes erzählen, eine der großen Liebesgeschichten, die alle kennen, und sie als meine, Atemzug für Atemzug selbst erlebte Geschichte ausgeben. Freilich, das würde bald erkannt werden. Aber darum ginge es ja auch.
So ließe sich nun fortfahren, immerfort verraten, was zu tun wäre, ohne es umzusetzen. Aber so fahre ich nicht fort.
Ich habe gehört, dass es jemandem nicht mehr gelang, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und dieser Mann werde ich jetzt sein. Aber ich kann kein Wort vor das andere setzen, was das Schreiben nicht nur erschwert, sondern verunmöglicht. So müsste man vorgehen! Immer alles verunmöglichen, dann käme man dem sogenannten Leben nahe. Beginnen wir noch einmal von vorne.
Mein Name ist populär. Jeder gebildete Mensch kennt ihn. Im Inland und im Ausland auch. Mit meinem Namen ist aufs engste der Begriff eines berühmten, reichbegabten und unzweifelhaft nutzbringenden Menschen verbunden. Der Träger meines Namens ist ein Mann von einundsechzig Jahren mit kahlem Kopf, falschen Zähnen und einem unheilbaren Gesichtszucken. Ich schreibe das ab. Und frage mich, wer das wohl noch länger lesen wollte. Ich nicht.
Es sollte zu Herzen gehen. Aber wie lässt sich das erreichen? Man gelangt doch nicht in die Herzen anderer hinein, man ist doch nicht einmal in seinem eigenen Herzen. Vielleicht sollte ich in dieser Erfindung keine Ähnlichkeit mit mir haben, das wäre von Vorteil. Jetzt habe ich etwas entfernt. Vielleicht hätte ich es stehen lassen sollen.
Das Selbst, nicht wahr, ein Fortbewegungsmittel. Das war es, was ich entfernt habe. Eine kleine Meditation über das Selbst. Mag sein, ich wiederhole mich. Hole mich wieder hervor. Stammle vermutlich immer die gleichen Sätze. Zu meiner Erbauung.
Und versuche mich wieder an einer Geschichte, aus den Fingern, dem Hirnstummel gesogen. Kein Schimmer, wie dabei vorzugehen ist. Ich sollte auf eine Eingebung warten. Und während ich warte, etwas ganz anderes tun. Ein wenig singen, obwohl ich meine Singstimme nicht ertragen kann. Sie klingt, als wehte sie von einer Nervenheilanstalt herüber.
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Ich simulierte das Costello-Syndrom und wurde dadurch vom Wehrdienst befreit.
Das Costello-Syndrom ist nach Frank Costello benannt. Es ist charakterisiert durch postnatale Wachstumsverzögerung, vergröberte Gesichtszüge, Minderbegabung, überschüssige Haut im Nacken, an den Handinnenflächen, Fingern und Fußsohlen und Herzfehler. Häufig besteht eine leichte bis moderate geistige Retardierung. Charakteristisch ist ein umgängliches und freundliches Wesen der Patienten.
Auch Costello selbst hatte das Syndrom nur vorgetäuscht, um ungestört seinen Geschäften nachgehen zu können, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Costello ermöglichte es dem damaligen FBI-Chef J. Edgar Hoover, regelmäßig bei Pferderennen zu gewinnen; im Gegenzug behauptete Hoover dann in den Medien, dass so etwas wie ein überregionales Verbrechersyndikat gar nicht existiere. Glaubwürdigen Gerüchten nach nahm Costello bei heiklen Rennen selbst als Pferd verkleidet teil.
Costello betrieb Flüsterkneipen, in denen es keinen Alkohol gab, weil er Mitglied des Arbeiterabstinenzlerbundes war, aber fast unverständlich leise geflüstert wurde. Das Schwarzer-Peter-Spiel war seine illegale Domäne, die Einsätze waren schwindelerregend hoch, der Peter raffiniert gezinkt. Schutzgelder erpresste er von Nonnen, Polizisten und Staatsanwälten. Nicht verhindern konnte er, dass Mafiafirmen von legalen Unternehmen in der Hoffnung auf Höchstgewinne unterwandert wurden, darunter vor allem Staatsbetriebe. In Costellos Glanzzeit arbeitete die Mafia de facto für die Staatskasse.
Seinem Ruf schadete die gerichtsbekannte Tatsache, er besuche einen Psychiater. Costello konterte souverän, der Arzt sei sein von ihm großzügig ausgehaltener Liebhaber.
Das Attentat, das Vincent Gigante auf ihn verübte, überstand er, weil er die Kugel, die in seiner Stirn steckte, erfolgreich ignorierte. Den Rest seines Lebens saß er vor dem Fernseher und schaute endlose Herz-Schmerz-Serien. Vielleicht auch nur, damit es keine weiteren Anschläge gab.
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Vielleicht sollte ich mit einer Beschreibung meines Äußeren fortfahren. Doch dazu reizt es mich nicht, da ich immer versuche, nicht an mein Gesicht zu denken. Es nimmt nicht für mich ein. Ich habe das in Nachrufen auf mich gelesen. Angeblich wurde ich schon in frühen Jahren ausgelacht, weil meine Nase tropfte wie eine träge Wasserfolter, mein Haar geräuschvoll wuchs und zwar so schnell, dass man zusehen konnte und mich für einen Dämon hielt. Aber das dürften spätere Hinzudichtungen sein. Ich kann dem keinen Glauben schenken. Meine Hauptschwierigkeit besteht darin, mich an nichts erinnern zu können, das lässt anfällig für Mystifikationen aller Art werden. Kaum höre ich etwas über mich, versuche ich es in mein Selbstbild einzupassen, so erhalte ich ein verstörend unförmiges Porträt, das dann vom Zweifel mit dicken Strichen übermalt wird. So also sehe ich aus: lauter dicke Striche! Mit diesem Aussehen traut man sich nicht auf die Straße.
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Es fiel mir früher immer zu, aber nun stockt alles. Es könnte jetzt ganz aufhören. Das darf nicht sein. Was bin ich dann? Dann bin ich nichts. Eine Art Ideal. Nichts zu sein bedarf es wenig, und wer nichts ist, aus dem wird nichts. Alles geht seinen Gang, das ganze Sein ist, nur ich bin nicht. Damit stünde ich allein und für nichts.
Aber so weit bin ich nicht, dahin gelange ich womöglich nie. Ich habe noch nicht einmal meine Zeit als Embryo abgehandelt. Ich war ein ganz besonders musikalischer Fötus, alle Organe meiner Mutter applaudierten mir, wenn ich sang, was nur Organe hören können, ein Vibrieren, das ihnen beste Vibrationen bescherte. Der Orpheus der Organe. Lunge, Leber, Milz und Herz meiner Mutter sehnten sich noch lange nach mir. Nie wieder hatten sie so eine inwendige Eingeweidefreude. Das Herz meiner Mutter, glaube ich, hat sich selbst verzehrt. Meine Mutter könnte heute noch leben, wäre ich immer in ihr verblieben.
Und auch heute noch singe ich die alten Gebärmutterlieder, auf dieselbe unhörbare Art und Weise, nur ich selber kann mich daran erfreuen, so kehre ich also singend in meine erste Heimstatt zurück, es zieht mich sehr stark an meinen Ausgangspunkt, denn besser habe ich es nie mehr getroffen. Bin ein verlassnes Kind, so wie ein Keim im Wind, ich bin der Weltverlust, so kennt ihr mich.
Und ich sehe mich mit einer singenden Säge in Wäldern aufspielen, die Wipfel wippen mit, die Bäume beugen sich zu mir, damit sie besser hören, auch die Tiere schließen sich mir an, sie werden mit mir weiterziehen, ganz vertrauensvoll, selbst wenn ich sie zu Schluchten führe. Auch der Wald selbst wird mit mir gehen, ich weissage es, ich und mein herrenloser Wald, wir ziehen über Land. Ich bin der Weltverlust, jetzt kennt ihr mich.
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Ich begann meine Laufbahn als Gigolette oder Lustknabe in einer Sakristei. Der Pfarrer eröffnete mir, während er mir seinen Samen einschenkte, dies sei ein heiliger Akt von größter Geheimhaltung. Ich dürfe niemandem davon erzählen, sonst würden alle diese Behandlung von ihm verlangen, sie sei aber nur für einen Auserwählten, nämlich mich. Als ich voller Stolz doch davon erzählte, wurde ich zum Bischof zitiert, der mich eindringlich ermahnte und mir seinen Samen einschenkte. Ich wurde sein Leibministrant, ganz den dringenden Bedürfnissen seines Leibes hingegeben. Als meine guten Anlagen dem Kardinal zu Ohren kamen, bestellte er mich zu sich und schenkte mir im Beisein seines Sekretärs ein Heiligenbildchen, das er mit seinem Samen verzierte. Als ich in den Stimmbruch kam, war ich bereits im Vatikan. Ich empfing mehrmals täglich die weltliche Kommunion. Dann hatte ich kurz vor einer Privataudienz beim Heiligen Vater ein Erweckungserlebnis, ich fiel ab vom Glauben und wandte mich in meiner Not an meine Beichtväter, die mich damit trösteten, das sei nur eine Phase. Der Glaube werde mich schon wieder befallen, wenn ich nur offen für seine Offenbarungen sei. Und freundlich schwenkten sie ihre Weihrauchschwengel vor meinem Gesicht.
Durch die Vermittlung eines päpstlichen Kammerherrn kam ich zu einem entlaufenen Mönch in Dienst, der ein gastliches Haus betrieb, in dem ich viele meiner geistlichen Freunde wiedertraf, aber auch ganz neue Bekanntschaften mit Ehrenmännern der besten Gesellschaft schloss. Alle wussten meine trotz aller Erfahrungen kindliche Unschuld zu schätzen. Ein französischer Gesandter fraß einen Narren an mir, zahlte meinem Mentor eine Summe, mit der dieser sich zur Ruhe hätte setzen können, und nahm mich nach Paris mit, wo er mir ein eigenes Palais einrichtete. Ich empfing auch andere großzügige Herren, denn so war ich es von Kindesbeinen an gewohnt, auch wenn das meinen Gönner grämte und er sich schließlich, als er mich in flagranti mit seinem eigenen Vater ertappte, am Vorhang meines Himmelbetts erhängte. Dieser traurige Vorfall machte mich in ganz Paris zum Stadtgespräch. Wenn ich in meiner Kutsche ausfuhr, huldigten mir sämtliche Päderasten von Rang, indem sie ihre Zylinder in die Luft warfen. Man rechnete es sich als Ehre an, von mir empfangen und innerhalb von Wochen finanziell und gesellschaftlich ruiniert zu werden. Unter meinem Künstlernamen Nono wurde ich in Varietés und Cabarets imitiert.
Leider wurde die Jugendfürsorge auf mich aufmerksam, und so verschwand ich bis zur Volljährigkeit in einer Besserungsanstalt, wo ich meine Talente vervollkommnen konnte. Schon am Anstaltstor empfing mich eine Abordnung von adeligen und großbürgerlichen Herrschaften, die mir ein Leben weitläufigster Ausschweifung spendieren wollten.
Ich nahm von allen, zierte mich aber puppenhaft, um die Verehrer in den Wahnsinn zu treiben. Den Staatspräsidenten, zum Schein mit seiner dementen Stiefmutter verheiratet, hielt ich mir als Bettvorleger. Ich ließ ihn auf die Fahne Frankreichs spucken und filmte ihn dabei. Auch musste er eine Parodie auf die Marseillaise singen, in der sein Land seit 1870 sämtliche Kriege verliert und auch noch stolz darauf ist. Eine Aufnahme davon, mit Blasmusik und Mellotron unterlegt, fand gefährlich großen Anklang.
Man verhaftete mich und schob mich nach Belgien ab, wo ich in einer Frittenbude einen beliebten Kinderschänderring gründete. Und wenn ich nicht an den Blattern gestorben wäre, würde ich womöglich die Menschheit durch eine nach mir benannte Lustseuche ausgerottet haben.
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Wie mir mein Leben zerronnen ist, so müsste meine Selberlebensbeschreibung fließen, immerfort fließen. In jedem Tropfen konzentriertes Erleben. Ein Amphibienwesen bin ich anfangs. Ich bin einem im Wasser gelegten Ei entsprungen, eine Larve, die durch Kiemen atmet. Ich habe Schwimmhäute zwischen den Fingern, ich habe sie heute noch. Streife ich meine Handschuhe ab, glauben alle zu träumen, die meine Schwimmhäute für einen schaurigen Moment sehen. Meine großen Augen sind mir auch geblieben, ich kann sie bis zu den Schläfen wandern lassen. Lider habe ich keine, was ich durch einen bedauerlichen Unfall erkläre, wenn man mich danach fragt. Aber meistens fragt man mich nicht, sondern flieht vor mir. Dabei habe ich niemandem jemals ein Leids getan. Meine ausdrucksvollen Ohren wachsen alle paar Jahre nach.
Ich bewege mich schreitend oder kriechend fort, klettere auf Bäume, kurze Strecken lege ich im Gleitflug zurück. Wenn ich nichts sehen will, grabe ich mir unterirdisch meinen Weg. Mein keilförmiger Schädel ist mein Erbteil. Mein Schädeldach lässt Sonnenschein und Regen ein.
Meine Haut ist reich an Giftdrüsen, die ich nicht einsetze. Flüssigkeit nehme ich durch die Haut auf und speichere sie in Lymphsäcken. Meine Körpertemperatur schwankt mit der Umgebung. Ich habe eine einzige bauchseitige Körperöffnung, die Kloake. Im seichten Wasser warte ich auf Gelegenheiten zur Fortpflanzung, ich möchte selber gerne wissen, wie das gehen soll.