Jörg Piringer: was wird literatur? was wird poesie?

Jörg Piringer: was wird literatur? was wird poesie?

in Dossier: Was wird Literatur?

eine utopistische tirade

über literatur kann ich nichts sagen. mich beschäftigt die poesie. diese gilt zwar gemeinhin als unterabteilung der literatur, ich halte sie aber (nach Friedrich W. Block) als eine eigenständige kunstform, die den einschränkungen, die der literatur für gewöhnlich zugemutet werden, nicht unterliegt. mich bekümmert nicht der wandel vom papier- zum e-book. keine plagiatsvorwürfe und leistungsschutzrechte. das sind probleme der unterhaltungswirtschaft. mit kunst hat das nichts zu tun.

was ist Poesie?

poesie als unterkategorie und gleichzeitig metakategorie von literatur darf alles. sie benötigt keine verständlichkeit. keine lesbarkeit. keine abdruckbarkeit. sie experimentiert mit form und gestaltungsprinzipien. erlaubt jede art der herstellung und präsentation. ist medienübergreifend und polyvalent. kann alles ausdrücken und veraltet nie.

als ich im juli 2015 Thomas Böhms artikel in der wochenzeitung Die Zeit las, in dem er die einführung von lyrikgalerien forderte, musste ich lachen. in der dem deutschsprachigen literaturfeuilleton eigenen mischung aus eurozentrismus, ignoranz und überheblichkeit wurde da etwas propagiert und als neueste idee zur rettung der poesie verkauft, was schon im chinesischen altertum und spätestens seit der moderne auch in europa von den verschiedensten avantgardebewegungen praktiziert wurde: das gedicht als unikat. als objekt. als multiple. als handelsgut.

wenn sich die literaturkritik von ihrer rolle als verlautbarungsorgan der verlage emanzipieren und wieder selbsttätig auf entdeckungsreise gehen würde, könnte sie unzählige spannende zeitgenössische poesieformen entdecken.

denn poesie ist schon jetzt wesentlich mehr als eine gedichtsammlung in einem buch. poesie ist schon jetzt performance. ist schon jetzt bildende kunst. ist jetzt visuelle poesie. ist lautpoesie. ist konzeptuelle poesie. ist poesieskulptur. ist generative poesie. ist poesieapps. ist softwarepoesie. ist poesiefilm. ist filmpoesie. ist kombinatorische poesie. polypoetry. haptische poesie. spampoetry. samplepoesie. flarf. lettristische poesie. schreibmaschinenpoesie. tachygraphie. hypergraphie. poesiehardware. scotch art. e-poetry. digitale poesie. netzpoesie…

und was wird?

ein umbruch findet statt. ich meine nicht den umbruch der publikationsformen. nicht den wandel der bisherigen einnahmequellen (gab es denn welche?) für poetinnen. nicht die erosion der urheberrechte.

es ist die digitale sprachtechnologie der konzerne, die die zukunft der poesie und der sprache im allgemeinen verändern wird. schon jetzt wird ein grossteil der textuellen information im netz von computern erzeugt und von computern gelesen. noch sind das hauptsächlich standardisierte protokolle und formale sprachen wie html, die rechner untereinander austauschen. aber zunehmend werden für ein breites publikum lesbare inhalte wie sportreportagen, wetterberichte und börsennachrichten automatisch generiert.

suchmaschinen scannen fortlaufend die inhalte des netzes. versuchen die textuelle information zu extrahieren und in einen durchsuchbaren index zu kondensieren. dazu bedienen sie sich verfahrensweisen der linguistik und der kognitionswissenschaften. spamfilter analysieren erhaltene emails und schätzen ab, ob die verfasserin ein mensch oder eine maschine gewesen sein könnte. smartphones reagieren auf gesprochene anfragen der besitzerin. geben antworten, die wissen über die umgebung und lebensgewohnheiten vermuten lassen.

all diese sprachtechnologien beeinflussen den alltag. formen soziale interaktionen und sollten dementsprechend in der zeitgenössischen und zukünftigen poesie einer reflexion unterzogen werden.

die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen und konzernen die hoheit über die sprachalgorithmen überlassen. sie werden für rechenmaschinen schreiben. sie werden die computer umprogrammieren. die spracherkennungssysteme der mobiltelefone hacken. datenpoesie erstellen. big language data cluster pervertieren. sie werden eine dynamische poesie entwerfen. flüssige texte. poesie aus information. poesie aus desinformation. poesie, die sich nach dem wetter richtet. verdunkelte poesie, die die geheimdienste verwirrt. poetische computerspiele designen. biopoesie. neuronale poesie. interaktive poesiefilme. poesiesoftware. codetheater. virtual reality poetry. poesieenvironments. poesiethemenparks. poesieasteroiden. poesiegalaxien. quantenpoesie. poesie aus dunkler materie und antineutrinos. poesie aus den letzten geheimnissen der beobachtbaren welt.

was bleibt?

all das wird passieren. oder wird erst der anfang sein. oder nichts davon. oder einiges. oder manches.

was aber bleibt und bleiben muss, ist der kern der poesie als sprachbasierte reflexion von wirklichkeit und vorstellung. oder wie es H.C. Artmann formuliert:

Der vollzogene poetische Act, in unserer Erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen Reichtümer, die wir tatsächlich unentreissbar mit uns tragen können.

literaturangaben

Reißt die Seiten aus den Büchern!
von Thomas Böhm
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2015–07/lyrik-vertrieb-problem-buchmarkt

Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes
von H.C. Artmann
The Best of H.C. Artmann, hg. von Klaus Reichert, Suhrkamp Taschenbuch

Jörg Piringer, geb. 1974, lebt und arbeitet in Wien. Studium der Informatik und an der Schule für Dichtung in Wien. Mitglied des „instituts für transakustische forschung“. Befasst sich mit elektronischer Musik und audiovisual/interactive poetry.