Also ich will da nicht irgendwo ganz unten und bescheiden anfangen und über den Nutzen für die Papierindustrie, das Verlagswesen und das Anfüllen von Freizeit sprechen, oder über den Umstand, daß es ohne Literatur auch keine Literaturkritiker gäbe, die darum als Sportreporter arbeiten oder die Wetternachrichten sprechen müßten. Und wer würde das wollen?
Ich will ganz oben anfangen und sagen, daß die Literatur Leben retten kann. Und zwar im Ernst. Ich meine also nicht solche Geschichten, wie man sie mir – wahrscheinlich, weil ich als Krimiautor gelte – gerne zuträgt, etwa die, jemand sei von einer verirrten Kugel getroffen worden, die auf Höhe des Herzens in seine Brust eingedrungen war, und er hätte nur darum überlebt, weil sich in der Innentasche seines Sakkos eines kleines Diogenestaschenbuch befunden habe. Etwas von Dürrenmatt, keine hundert Seiten, die Physiker wohl, und daß also die Kugel, bevor sie in die Person eindringen konnte, in das Buch eindrang. Klar, das war nicht Der Mann ohne Eigenschaften, in dem eine solche Kugel richtiggehend hätte steckenbleiben können, aber den trägt auch keiner in seiner Sakkotasche herum. Und doch wurde dank dieses schmalen Bands von hundert Seiten das Projektil in einer Weise abgebremst und vor allem abgelenkt, daß sie nicht in das Herz gelangen und sich dort tödlich auswirken konnte.
Nein, woran ich denke, ist der Moment, als eine Leserin mir eins meiner Bücher zum Signieren hinlegte und erklärte, dieses Buch habe ihr das Leben gerettet. Dabei war es natürlich kein Ratgeberbuch in der Art von Endlich Fünfzig! oder Das Glück der Niederlage oder Yoga für Alkoholiker, sondern einfach ein Roman. Ein Roman, der das Schicksal einer Figur beschreibt. Und in deren Schicksal sich diese Leserin wiedergefunden hatte. Allein aus diesem Wiederfinden konnte sie jenen Trost beziehen, der ihr half … ich weiß gar nicht, ob man sagen kann, eine Krise zu bewältigen. Sondern besser, die Krise zu verstehen, und aus dem Verstehen heraus in der Krise etwas wie eine Heimat zu erkennen.
Im ersten Absatz des Vorwortes zu seinem Tractatus Logico-Philosophicus schreibt Ludwig Wittgenstein etwas, das mir als der wesentlichste Punkt seines Textes erscheint und eigentlich auch als der wesentlichste Punkt aller Texte. Er sagt: „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es Einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete.“
Literarische Werke besitzen niemals die destruktive Kraft von Lehrbüchern oder Ratgebern oder Aufklärungsbroschüren oder ideologischen Schraubenziehern. Sondern liefern Beschreibungen, die denen, die sie mit Verständnis lesen, Vergnügen bereiten. Verständnis und Vergnügen bedingen sich in der Art einer Bewegung, die eine bestimmte Technik erfordert – wie das etwa beim Schwimmen der Fall ist. Aber zum Schwimmen gehört eben auch ein Gewässer, in das der Schwimmende steigt. Und Gewässer ist nicht gleich Gewässer. Manche benötigen die Glätte und Transparenz eines Pools, andere einen Wildbach, manche bevorzugen die unüberschaubare Unheimlichkeit des Meers, andere den subtilen Horror eines Sees, und einigen reicht die theoretische Endlosigkeit einer Badewanne.
Das Angebot der Literatur ist die Palette jeder tatsächlichen wie erträumten Form von Gewässer, in das Leser sich zu begeben verstehen.
Die Techniken des Lesens – vom leidenschaftlichen Rückenschwimmen über das sportive Kraulen zum kindhaften So-lange-als-möglich-unter-Wasser-Bleiben, bis hin zu jenen Leuten, die es verstehen, regungslos dahinzutreiben, ohne unterzugehen – ergeben die Palette des vom Verständnis getragenen Vergnügens.
Wobei sich das Vergnügen nicht zuletzt auch aus der Gegenseitigkeit ergibt, indem sich nämlich nicht nur der Leser vom Buch verstanden fühlt, sondern auch das Buch vom Leser. Denn in der Tat entsteht zwischen den beiden genau jenes energetische Verhältnis, das letztlich auch das Buch am Leben erhält.
Die Frage, was Literatur kann, trifft immer auf die Frage, was der Leser kann. Es ist die Symbiose, die beide beglückt. Und wenn in dieser Welt ein guter Geist wirkt, so wird er hoffentlich zusehen, daß jedes Buch – und das ist nicht zynisch oder ironisch gemeint – einen Leser bekommt, den es retten kann.