Der Stellvertreter. Zu Arthur Schnitzler Jahrhundertnovelle
Ein braver junger Offizier besucht ein geistliches Konzert: „In einem Oratorium könnt’ ich doch die halbe Nacht sitzen!“ Dass das verehrte „Fräulein Stephanie“ gleichzeitig mit ihrem jüdischen Bräutigam unterwegs ist, stört ihn nicht, denn: „ich liebe die Israeliten sehr“. Noch mehr aber liebt er seinen Beruf; schon als kleiner Bub wollte er zum Militär, „weil ich à tout prix das Vaterland hab’ verteidigen wollen, das doch immerfort in Gefahr ist“. Einen solchen unglaublichen Musterknaben führte der Wiener Autor Arthur Schnitzler allerdings nur ironisch vor. Die Satire war zugleich Selbstparodie: Sie galt dem Helden einer Novelle, die Schnitzler im Jahr 1900 geschrieben und in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse veröffentlicht hatte. Lieutenant Gustl sollte seinem Erfinder, der den eigenen Militärdienst in den 1880er-Jahren als ‚Einjährig-Freiwilliger‘ abgeleistet hatte, allerdings selbst den Offiziersrang kosten.
Schnitzler hatte damals Medizin studiert; sein Interesse für Psychiatrie und Neurologie veranlasste ihn, später den Veröffentlichungen des um sechs Jahre älteren Kollegen Sigmund Freud zu folgen. Im Frühjahr 1900 las er Freuds eben erschienene Traumdeutung, und der im Juli in wenigen Tagen entstandene Lieutenant Gustl ist daher einer der allerersten Texte der Weltliteratur, die in Kenntnis psychoanalytischer Thesen zum Unbewussten verfasst worden sind. Dass die ‚modernen‘ Autoren eine neue literarische Psychologie entwickeln müssten, welche „die Zusätze, Nachschriften und alle Umarbeitungen des Bewussteins“ ausscheiden und die Gefühle auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor dem Bewusstein“ zurückführen könnte, hatte der Publizist Hermann Bahr schon zehn Jahre früher gefordert; Schnitzlers Text ist darauf gleichsam die literarische Antwort. Denn er fand auch die von Bahr ebenfalls verlangte neue ‚Methode‘: Seine Figur drückt Gedanken und Gefühle gleichsam unmittelbar aus, in der ersten Person und im Präsens; diese in der deutschen Literatur bis dato noch nicht dagewesene Erzählform sollte man dann den ‚Inneren Monolog‘ nennen. Figurenpsychologisch und formal ist Lieutenant Gustl also tatsächlich ein Vorreiter der Moderne.
Leider ist der Held auch ein Vorläufer eines bestimmten Typus des 20. Jahrhunderts, wie sich herausstellen sollte. Es geht also um Gustl, einen unbedeutenden kleinen Leutnant, der eines Abends und eigentlich nur, weil er die Eintrittskarte geschenkt bekommen hat, im Wiener Konzerthaus die Aufführung eines Oratoriums besucht; hinterher kommt es im Gedränge an der Garderobe zu einem Zusammenstoß mit einem Bäckermeister. Für Gustl, der den Verhaltenskodex seines Standes vollkommen verinnerlicht hat, ist das eine Katastrophe: Denn einen Handwerker kann er nicht zum Duell fordern, wie er es für nötig hält, um seine vermeintlich beleidigte Ehre wiederherzustellen – ‚satisfaktionsfähig‘ waren nur Aristokraten, Offiziere und Akademiker. Also glaubt Gustl, sich selbst umbringen zu müssen, läuft panisch durch die Straßen, verbringt die Nacht auf einer Bank im Prater und geht am Morgen durch die Innenstadt in die Richtung seiner Kaserne. Vor seinem geplanten Selbstmord kehrt er aber geschwind in sein Stammcafé ein, um zu frühstücken, wo er erfährt, dass den Bäckermeister noch in der Nacht der Schlag getroffen hat. Da es keine Zeugen der Auseinandersetzung gibt, ist der Fleck auf der Ehre ganz schnell vergessen, und triumphierend entschließt sich Gustl zum Weiterleben.
Das alles erfährt man also scheinbar ganz ungefiltert durch Gustls Affekte und Reflexe. Aber natürlich ist dabei eine sehr subtile Erzählregie im Spiel, die nicht nur alle nötigen Informationen über Gustls Herkunft – aus einer recht unbemittelten Familie – und über sein Verhältnis zu Geliebten, Kameraden und Vorgesetzten einfließen, sondern auch seine Haltungen und Werte zum Vorschein kommen lässt. Und da zeigt sich Gustl durchaus als ‚lieu-tenant‘, als Stellvertreter oder Platzhalter seines Standes, nämlich als antisemitisch und frauenfeindlich. ‚Die Juden‘ empfindet Gustl als Konkurrenten – militärisch und erotisch; die Mädchen, mit denen er Beziehungen eingeht, sind letztlich nichts als Waren auf dem Liebesmarkt, verwechsel- und austauschbar: „Ob so ein Mensch Steffi oder Kundigunde heißt, bleibt sich gleich“. Verehrung hat er nur für die ranghöheren Offiziere, er wird gleichsam ferngesteuert durch deren Kommandos, die Welt teilt sich für ihn in seine ‚in-group‘, die k. u. k. Armee, und alle anderen, die ihm fremd und, wie er oft glaubt, feindlich gegenüberstehen. Insofern ist Gustl zum Prototyp aller Untertanen der kommenden Totalitarismen geworden.
Wie treffsicher Schnitzlers literarische Diagnose über diesen ‚autoritären Charakter‘ gewesen, bestätigte sich sofort durch die öffentlichen Reaktionen. Eine Militär-Zeitschrift attackierte den Autor auf besonders gehässige Weise; daraufhin erwartete man mit unbelehrbarer Borniertheit, dass sich Schnitzler mit dem betreffenden Redakteur duellieren würde. Weil er das unterließ, wurde er vor ein ‚Ehrengericht‘ geladen; Schnitzler ging auch dort nicht hin. Also wurde er in seiner Abwesenheit verurteilt, weil er durch seine Novelle – und durch den vermiedenen Zweikampf – die „Standesehre“ der Armee geschädigt habe; er wurde zum ‚gemeinen‘ Sanitätssoldaten degradiert, und man holte das Offiziersdiplom aus seiner Wohnung ab. Zugleich legte die völkisch-nationale Presse mit weiteren Polemiken gegen die „Schunderzeugnisse“ des „Literaturjuden Schnitzler“ nach. Den zeitgenössischen Test auf die Triftigkeit der Charakterzeichnung hatte die Novelle also bravourös bestanden.
Viel später hat der inzwischen wegen anderer Werke, etwa Professor Bernhardi (1912) und dem erst 1920 uraufgeführten Reigen-Zyklus immer wieder antisemitisch angegriffene Schnitzler den Skandal gelassen kommentiert: „Nach einigen Jahren bleibt von all dem Lärm nichts weiter übrig als die Bücher, die ich geschrieben und eine dunkle Erinnerung an die Blamage meiner Gegner“. Damit sollte er, wie sich gezeigt hat, völlig Recht behalten.