Als Heimito von Doderers sein wohl bekanntestes Werk veröffentlichte, war er 54 Jahre alt, hatte einen Gedichtband und einige nicht sonderlich voluminöse Romane veröffentlicht, war aber ein so gut wie unbekannter Autor. Im Frühjahr 1951 änderte sich das. Da erschienen – ein verlegerisches unübliches und nicht ganz ungewagtes Manöver – quasi zeitgleich „Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal“ und „Die Strudlhofstiege“. Hatte sich Doderer im „Zihal“, wie er ihn nannte, in Nachempfindung des k.u.k.-Kanzleideutsch erstmals auch jener skurrilen Komik und kauzigen Ironie bedient, die zu seinem Markenzeichen werden sollte, so war es ihm mit der „Strudlhofstiege“ gelungen, einem Bauwerk zu literarischem Ruhm zu verhelfen, das zu diesem Zeitpunkt weitgehend dem Vergessen anheimgefallen war – so wie erst recht dessen Erbauer, dem die lateinische Widmung des Romans zugeeignet ist.
„Die Strudlhofstiege ist neunzehnhundertzehn erbaut worden (…) nach den Entwürfen Johann Theodor Jaegers, welcher jetzt noch dem Stadtbau-Amt angehört“, lässt Doderers prominentestes Alter Ego, der junge Historiker René von Stangeler, den Major Melzer auf dessen Nachfrage wissen. Geologisch gesehen ist die Geländekante, der wir in gewisser Weise den Roman verdanken, eine eiszeitliche Löss-Terrasse, die von Nussdorf bis Maria am Gestade verläuft, und die Strudlhofstiege ist auch keineswegs das einzige Bauwerk ihrer Art im Alsergrund, als dem 9. Wiener Gemeindebezirk, in dem sich ein guter Teil des Romans abspielt.
Dennoch hat sich der Autor aus guten Gründen nicht die Thurn-, die Himmelpfort- oder die Vereinsstiege ausgesucht. Denn auch wenn der – seinerzeit mit Doderer persönlich bekannte – Schriftsteller und Architekturhistoriker Friedrich Achleitner der Auffassung ist, dass „architektonische Qualität und literarische Aura (…) nicht notwendig aufeinander bezogene Faktoren eines vom Genius loci geprägten Bauwerks [sind]“, wird jedem, der die Strudlhofstiege je gesehen und beschritten hat, leicht nachvollziehbar sein, welche Bedeutung dieser innerhalb des Romans zukommt.
Im Unterschied zu den meisten anderen vergleichbaren Anlagen in Wien führt die Strudlhofstiege eben nicht auf direktem Weg von A nach B, sondern lenkt die Passanten, die sie am Fuße des Bauwerks über eine der beiden zunächst noch symmetrisch angelegten Zugänge betreten haben, im weit ausschwingenden Zickzack über flache Rampen nach oben, was zu einer Fortbewegungsweise nötigt, die der Autor zum Programm der „Strudlhofstiege“, ja zur Wahrnehmungsmaxime generell erhoben hat: „Hier war empor zu schreiten, hier mußte man herunter gezogen kommen, nicht geschwind hinauf oder herab steigen über die Hühnerleiter formloser Zwecke. (…) Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor.“
Man hat behauptet, Doderer habe seine weitschweifige und ausufernde Syntax der Strudlhofstiege nachempfunden. Genauso gut oder triftiger noch lässt sich das Gegenteil behaupten, nämlich dass er sich just jenes Bauwerk ausgesucht habe, das seinem Satzbau entspricht.
Sei dem, wie ihm wolle, eine gewisse „Umwegigkeit“ (ein früher Roman Doderers trägt übrigens den Titel „Ein Umweg“) oder auch Umständlichkeit wird man der „Strudlhofstiege“ gewiss nicht absprechen können. Der Umstand, dass die Haupthandlungsstränge in den Jahren 1911 und 1925 situiert sind, durch die meteorologische Regie des Autors aber zu einem einzigen, schier ewig anhaltenden Sommertag zu verschmelzen scheinen, macht die Orientierung nicht unbedingt leichter. Dennoch muss hier einmal auch festgehalten werden, dass die warnenden Hinweise, die dem Œuvre dieses Autor immer noch aufgeklebt werden – „langatmig“, „schwierig“, „konservativ“ – einfach hanebüchener Unfug sind.
Wahr ist vielmehr, dass die Romane kurzweilig, höchst vergnüglich, sehr komisch, handlungsstark und atmosphärisch äußerst dicht sind, dass sich deren Autor allerdings nicht jenen ästhetisch-ideologischen Imperativen unterordnet, die einige selbsternannte Haus- und Braumeister der Moderne aufgestellt haben. Doderer hält sich eben an keine Reinheitsgebote. Kein Stoff ist ihm zu minder oder zu kolportagehaft, historisch verbürgte Ereignisse sind ihm ebenso recht wie reisserische Meldungen fragwürdiger Herkunft und Authentizität. Nicht einmal von einer Verwechslungsintrige mit eineiigen Zwillingen schreckt er in der „Strudlhofstiege“ zurück.
Zugegeben, da verliert man als Leserin und Leser leicht einmal den Überblick. Hauptsache, der Autor behält die Fäden in der Hand. Ja, ein bisschen was von einem Angeber und Kraftmeier hat er schon, der Doctor Doderer. Er ist ein Marionettenspieler, der gerne auch die Muskeln spielen lässt und zeigt, was er kann.
Aber er kann’s halt auch wirklich. Spannung zum Beispiel – klassischen Suspense à la Alfred Hitchcock (der Zuseher/Leser weiß mehr als die handelnden Personen). Dass nämlich der Mary K. eines von „zwei sehr schönen Beinen“ – und zwar das rechte – am 21. September 1925 von der Straßenbahn über dem Knie abgefahren wird, das erfahren wir schon im allerersten Satz. Bis zu diesem Datum (es fällt im übrigen auf einen Montag) dauert’s indes 760 Seiten. Dann steigt Mary K. um halb acht erst einmal in die Badewanne, es springt ihr „das Oval der Seife aus der Hand“, später wird sie über den Teppich stolpern und was der vorausdeutenden Missgeschicke mehr sind.
Jetzt gefällt es dem Autor aber, diverse andere Handlungsstränge auf den Althanplatz zulaufen zu lassen, wo sich – nach weiteren 80 Seiten der splattermäßig inszenierte Unfall endlich ereignet, in dessen Folge dann auch noch Gott Amor zu einem prächtigen Blattschuss kommt. Haarsträubend? Schon möglich. Aber auch gänsehautgarantierend gut gemacht.