Buchtipp für den Sommer von Agnes Altziebler.
Ein letztes Aufbäumen gegen das Vergessen, einmal mehr und ein letztes Mal niederschreiben, was gesagt, was gehört werden muss!
Nach „Sonnenschein“ erschien heuer im Frühjahr Daša Drndićs zweiter ins Deutsche übersetzte Roman „Belladonna“, der auch ihr Vermächtnis wurde, sie erlag 72-jährig in diesem Juni ihrer schweren Krankheit.
Belladonna, die Schlafkirsche, in homöopathischer Dosis eine Heilpflanze, richtig dosiert bringt sie halluzinogene Effekte oder, wenn gewünscht, den Tod. Aber hier geht es nicht mehr um die richtige Dosis, hier geht es darum, in einem letzten Aufbäumen gegen das Schweigen, Verdrängen, Vertuschen, gegen die Lügen der Geschichte anzukämpfen.
Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um den Zustand der Welt und auch das Grauen des vergangenen Jahrhunderts einmal mehr zu Tage zu fördern, zumal es in einem „Tsunami des Vergessens“ unterzugehen droht: Andreas Ban war Psychotherapeut, Schriftsteller, Touristenführer, Schwimmer; einer, der Anfang der 90er Jahre von Belgrad nach Rijeka ging, unfreiwillig, einer, der da wie dort auf der falschen Seite stand.
Der zunächst die Zeichen ignoriert, sie dann wütend bekämpft und schließlich von Krankheit gezeichnet parallel zu den Stadien der Krankheit – vom Verdrängen, über Wut, Ohnmacht, bis zum Rückzug in die Einsamkeit – eine letzte Bestandsaufnahme seines Lebens hält.
Es ist ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen das Vergessen, eine wütende Abrechnung mit der Vergangenheit und ein Aufrütteln gegen das Verdrängen, es ist ein Kampf gegen die Krankheit, und schließlich eine Annäherung an den eigenen Tod.
Schon wie in ihrem Dokumentar-Roman „Sonnenschein“ spielt Daša Drndić mit Fakten und Fiktionen. Gekonnt verflicht sie die biographischen Erinnerungen mit der Leidensgeschichte der Opfer und den Gräueltaten der Täter. Sie flicht Protokolle, historische Fakten, Fußnoten, kursive Einschübe mit Zeitungsnotizen, Familiengeschichten, Lieder, Gedichte, Zitate aus Büchern, Verweise auf Bücher, auf Autoren ein. Dazu Fotos, etwa historische Aufnahmen von Kriegsverbrechern oder Zeichnungen von Akkupunkturpunkten am Ohr, und Listen, wie schon in „Sonnenschein“, hier mit den Namen der ermordeten jüdischen Bevölkerung in Šabac und von Kindern in Amsterdam, denn der „Mensch ist vergessen, wenn sein Name vergessen ist“.
Mehr noch als in „Sonnenschein“ ist „Belladonna“ ein assoziatives Zusammenspiel aus einer Fülle an Material, das keiner scheinbaren Logik zu folgen scheint; und doch: der physische und psychische Zustand, die Phasen der Krankheit, spiegeln sich im Roman. Die wütende Suada, die melancholische Erinnerung, die Resignation, die Verzweiflung. Es sind Protokolle des eigenen wie auch des historischen Scheiterns. Nichts hat sich geändert, im Gegenteil: „das kollektive Gedächtnis streikt“ und „Rechtfertigungen ziehen sich wie Schleimspuren durch die Geschichte“; speziell in Kroatien, wo wieder das „Hochamt der Heimatliebe“ gefeiert wird, in einem „mottenzerfressene Karnevalskostüm der Nostalgie“.
Es ist ein wildes assoziatives in Furor und Verzweiflung hinausgeschleudertes Wissen, im Wissen um die Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit des Unterfangens. – Ein Schreiben gegen den Untergang, ein letzter Versuch, zu bewahren, was nicht vergessen, was erhalten werden soll.
Daša Drndić (1946-2018): Belladonna. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, Blanka Stipetic. Hoffmann & Campe 2018, 400 Seiten