Gerhard Roth. Archen des Schreibens (I)

Do 13.04.2023 / 9 Uhr
Reihe:

Symposium des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung der Universität Graz, Tag 1.

9 Uhr
Begrüßung: Klaus Kastberger (Leiter Franz-Nabl-Institut/Literaturhaus Graz)

Vorträge und Diskussion:
Kristina Pfoser: Roth gelesen und gefragt.
In einem Streifzug durch das Werk wird der Versuch unternommen, Leitmotive zu finden und die großen Themenkomplexe zu markieren: Wahn und Gedächtnis, Verbrechen und Verschweigen, Gewalt und Tod, Täter und Opfer. „Mit dem bin ich offenbar siamesisch-zwillingshaft verbunden“, hat Gerhard Roth einmal gesagt. Meine Begegnungen mit dem Autor werden ebenso ein Thema sein wie seine Selbstauskünfte und Selbstreflexionen in den Interviews.

Jürgen Hosemann: Roth lektorieren.
Der Vortrag reflektiert die lange Zusammenarbeit des Lektors mit dem Autor, die auch mit dessen Tod nicht beendet ist. Dargestellt werden soll der Entstehungsprozess von Gerhard Roths Büchern ab Textabgabe im Verlag. Nach welchen Kriterien arbeitet der Lektor am Text, und welche Eingriffsmöglichkeiten hat er? Welche Maßstäbe für seine Arbeit stellen die Texte selbst auf, und welche Merkmale lassen sich in ihnen identifizieren? Wie entstehen Paratexte und Buchumschläge? Wie lassen sich verantwortungsvoll die Rechte von Autor, Text, Leserschaft und Verlag abwägen? – Der Werkstattbericht verbindet konkrete Erinnerung mit allgemeinen Überlegungen zur Arbeit an Texten und mit Autorinnen und Autoren.

11 Uhr
Vorträge und Diskussion:
Monika Muskala: Fassbar-unfassbar, sichtbar-unsichtbar. Der Geschichte auf den (Unter)Grund gehen.
Im tiefen Österreich beginnen die Archive des Schweigens, dort, wo die Geschichte in der Tiefenerinnerung weiterlebt, zu Fleisch geworden, zu stummem Wort, zum Blut, das, einst in den Boden versickert, zu Blut und Boden wurde, vermischt zum täglich Brot. Diese Geschichte ist noch lange nicht Geschichte, das Vergangene nicht vergangen. Das Verschwiegene und Verdrängte offenbart sich in unerwarteten Formen. Fassbar-unfassbar, sichtbar-unsichtbar: Gerhard Roth geht der Geschichte auf den (Unter)Grund, da wo der historische Diskurs als Produkt der bewussten Reflexion über das Vergangene nicht hinreicht.
Vor 30 Jahren bin ich nach Österreich gekommen, um eine Dissertation über Die Archive des Schweigens zu schreiben. Es war der Beginn meiner Auseinandersetzung mit den Formen und Sprachen der Erinnerung und des Schweigens in der (österreichischen) Literatur.

Thomas Combrink: Ländliche Erzählungen. Gerhard Roth und Josef Winkler.
In dem Vortrag geht es um einen Vergleich der literarischen Werke von Josef Winkler und Gerhard Roth. Dabei sollen die ländlichen Erzählungen beider Autoren im Vordergrund stehen, bei Josef Winkler wären es die Geschichten, die um seine bäuerliche Herkunft in Kärnten kreisen, bei Gerhard Roth würde es sich um die Texte aus dem Zyklus Die Archive des Schweigens handeln, in denen die Erfahrungen in der Steiermark zentral sind. Außerdem bietet sich ein Blick auf das Motiv des Todes an, der als literarische Beschreibung in den Arbeiten beider Autoren von Bedeutung ist. Wichtig wäre eine Untersuchung der dichterischen Sprache, der Metaphern, der Bilder, der Vergleiche; bei Roth käme der Einsatz von Fotos hinzu.

15 Uhr
Vorträge und Diskussion:
Anna Fercher: „mag sein, dass es falsche Erinnerungen sind…“. Zur literarischen Vergegenwärtigung von Kindheitserinnerungen in Gerhard Roths Das Alphabet der Zeit.
Die Erinnerung setzt in Gerhard Roths Das Alphabet der Zeit mit dem Erlebnis eines alliierten Fliegerangriffs im Jahr 1945 ein. Eine traumatische Erfahrung, die der 1942 geborene Autor mit vielen seiner Altersgenoss:innen teilt, die seit der Jahrtausendwende als Angehörige der sog. ‚Kriegskindergeneration‘ verstärkt ins öffentliche Interesse gerückt sind. Im Rahmen der Aufarbeitung der eigenen (Familien-)Geschichte gewährt Roths Autobiographie aus dem Jahr 2007 auch Einblick in die komplexen Mechanismen des Gedächtnisses. Auf welche Weise sich die große zeitliche Distanz zum Erinnerungsgegenstand dabei auf die Erzählformen auswirkt und mit welchen literarischen Mitteln der Erinnerungsvorgang zu Papier gebracht wird, steht im Fokus dieses Beitrags zu Roths autobiographischem Schreiben.

Daniela Bartens: „Dem Archiv verschrieben“. Gerhard Roth und das Archiv.
Gerhard Roths Werk lässt sich als ein einziges großes Archiv- und Selbstarchivierungsprojekt lesen: von der Recherche in realen und virtuellen Archiven, dem Aufsuchen von Gedächtnisorten über das Anlegen eigener Bücher- und Foto-Sammlungen und die Aufnahme archivtheoretischer Überlegungen in die (Struktur der) Texte bis zur kontinuierlichen Übergabe des Vorlasses. Anhand ausgewählter fiktiver Selbstbeschreibungen des Autors als Archivar soll dessen Archivbegriff im Kontext gängiger Archivtheorien (Foucault, Derrida) und in Bezug auf das Paradox einer Archivierung der Lücke (Archive des Schweigens), ja sogar der Toten (Orkus) inklusive der verschwundenen Autorfigur (Grundriss eines Rätsels), herausgearbeitet werden.

17 Uhr
Vorträge und Diskussion:
Monika Schmitz-Emans: Gerhard Roths Labyrinthe. Topographien, Denkbilder, Schreibmodelle.
Labyrinthe haben in der Kulturgeschichte, der Literatur und der Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. In Gerhard Roths Œuvre entfalten sich auf mehreren Ebenen Konzepte des Labyrinthischen, wobei zu heuristischen Zwecken zwischen unterschiedlichen Labyrinthtypen zu differenzieren wäre – etwa mit Umberto Eco dem univialen, dem verzweigten und dem rhizomatischen Labyrinth. Roths Textwelt ließe sich als ein Labyrinth zweiter Ordnung betrachten, das diese Labyrinthkonzepte und ihre Semantiken verbindet – auch durch das Zusammenspiel narrativer, buchgestalterischer und textgraphischer Strategien. Einen Leitfaden der Erörterung bietet der Roman Das Labyrinth: mit Blick auf seine besondere narrative Konstruktion, auf seine Vernetzung mit anderen Texten und den Bildbänden Roths – sowie auf seine Fußnotenpolitik und ihre vielfältigen Effekte.

Sven Hanuschek: „Meine spezielle Wirklichkeit, die von den Ärzten ‚Wahn‘ genannt wird“. Franz Lindners Strategien der (Selbst-)Rettung.
Gerhard Roths Zyklen Die Archive des Schweigens und Orkus sind durch die Figur Franz Lindner verknüpft, im letzten vollendeten Roman Die Imker lebt er im Gugginger ‚Haus der Künstler‘. Driftend zwischen Schizophrenie und Genius beschreibt er die Apokalypse. Im Vortrag soll Roths Bild von ‚Wahn‘ anhand der Figur Lindner skizziert werden – und die Frage nach dessen utopischen Momenten gestellt werden.

In Kooperation mit dem Kulturhaus St. Ulrich im Greith.

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