Gegenwärtigkeit (I)

Do 28.04.2022 / 9 Uhr
Kategorie:

Anlässe des Schreibens in der österreichischen Literatur seit 2020, Tag 1.
Symposium des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung der Universität Graz im Literaturhaus Graz.

9 Uhr
Begrüßung: Klaus Kastberger (Leiter Franz-Nabl-Institut/Literaturhaus Graz).

Vorträge und Diskussion
Joanna Drynda: „Ich möchte anwesend sein, wenn der Tod kommt.“ Ein Versuch über „Mutter. Chronik eines Abschieds“ (2020) von Melitta Breznik.
In ihrem 2017 veröffentlichten Aufsatz Schreiben über Sterben und Tod gehen Corina Caduff und Ulrike Vedder auf das mediale Phänomen der sogenannten ‚neuen Sichtbarkeit des Todes‘ ein und konstatieren, dass derzeit viele literarische Texte die „twilight-zone zwischen Sterben und Nicht-Sterben“ fokussieren. Der vorgeschlagenen Typologie entsprechend, wäre Melitta Brezniks Werk jenen Texten zuzurechnen, die sich zwischen Authentizität und Fiktionalität bewegen, um den Sterbeprozess einer nahen Person angemessen individuell darzustellen. Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um Sterben und Tod wird in dem Beitrag der Frage nachgegangen, was das Einmalige an dem inszenierten Abschiednehmen von der Mutter ist.

Teresa Hartinger: Anlass Alter – Repräsentationen des Alter(n)s in ausgewählter österreichischer Gegenwartsliteratur.
Das Sujet des Alter(n)s wurde in der österreichischen Gegenwartsliteratur der vergangenen beiden Jahre häufig aufgegriffen und ist mit seinen vielen Facetten gesellschaftlich brisant. Dazu tragen unter anderem mediale Diskurse bei, die einerseits im Kontext des demographischen Wandels und des damit verbundenen Pflegenotstands und andererseits durch die Corona-Krise das Thema ‚Alter(n)‘ in den Fokus gerückt haben. Der Beitrag zeigt anhand ausgewählter Werke aktuelle Aspekte der Thematik wie Körperlichkeit, Krankheit und Pflege oder Selbst- und Fremdbestimmung auf.

11 Uhr
Vorträge und Diskussion
Lisa Erlenbusch: „Im Berg war immer eine schiache Arbeit, weißt – / Aber damals dann –“ Dramenästhetische Tradition und Innovation in Lisa Wentz’ „Adern“.
Lisa Wentz hat 2021 mit ihrem Text Adern den Retzhofer Dramapreis erhalten, die damit verbundene Uraufführung wird im April 2022 im Vestibül des Wiener Burgtheaters stattfinden. Die Jury hat ihre Auswahl damit begründet, dass es sich um ein „überaus kunstvolles Volksstück“ handle; die Autorin nennt es ein „Stück über das Schweigen“. So verwundert es nicht, dass in diesem Kontext immer wieder Bezüge zu Ödön von Horváths Dramenwerk hergestellt werden. Der Vortrag will beleuchten, inwiefern das im Tirol der Nachkriegszeit spielende Stück traditionelle Spielweisen mit innovativen Aspekten verbindet und so einen Bogen zur Gegenwärtigkeit des Textes und seiner Themen spannt.

David Wimmer: Unverhofft gegenwärtig. Zur Aktualität der jüngsten Literatur von Clemens J. Setz.
Die Texte von Clemens J. Setz haben häufig spekulativen Charakter – sie erscheinen als „Science-Fiction der Gegenwart“ (Kastberger) und literarische Versuchsanordnungen. Als solche fragen sie oft mit einem gewissen Hang zur Drastik nach dem „Was wäre wenn?“ innerhalb einer fiktionalisierten Welt. Hyperbolisch weisen sie so über das Abseitige auf das Gegenwärtige hin. Was aber, wenn eine außerliterarische Wirklichkeit die Spekulation einholt, wenn sie alle Drastik sogar übersteigt? Liegt vielleicht gerade darin, in dieser Möglichkeit, die (dauerhafte) Gegenwärtigkeit und Aktualität von guter Literatur? – Eine Betrachtung der jüngsten Literatur angesichts einer (post-)pandemischen Gegenwart.

15 Uhr
Vorträge und Diskussion
Agnes Altziebler: „Ich habe mir 2020 irgendwie anders vorgestellt.“ Anlass-Literatur – Auftrags-Literatur am Beispiel der Corona-Tagebücher des Literaturhauses Graz.
Als im März 2020 der erste Lockdown ausgerufen wurde, war auch das literarische Leben im Literaturhaus Graz stillgelegt. Was dann folgte, war eine Flut an Absagen und Verschiebungen, die bis heute, fast zwei Jahre später, anhält. Wie umgehen mit einem Leben in einer (kollektiven) Ausnahmesituation? Und wie darüber schreiben? Von März 2020 bis April 2021 haben 31 Autorinnen und Autoren wöchentlich und öffentlich Tagebuch geführt. Entstanden ist ein Konglomerat, das in seiner Vielstimmigkeit zeigt, wie divers AutorInnen auf die gegenwärtige Situation reagieren, welche Einblicke sie geben in die vielschichtigen Gefühls- und Gedankenwelten, aber auch, wie sie mit der Erwartung an das Genre umgehen.

Walter Fanta:
Žižek in Teheran, Arslan in Bingöl und Kutzenberger in Santa María – wohin es die österreichische Literatur verschlägt.
Analysiert wird, mit Musil gesprochen, „Weltösterreich“. Die Texte der österreichischen Literatur werden gar nicht mehr von ‚echten‘ ÖsterreicherInnen geschrieben, ihr Schauplatz ist nicht Österreich und ihre ProtagonistInnen sind keine ‚echten‘ ÖsterreicherInnen, sondern migrantische, globetrottende Wundertüten. Das ist das endgültige Ende des Schmidt-Dengler’schen Paradigmas von der österreichischen Nationalliteratur als kulturelle Begleiterscheinung des Kleinstaats Zweite Republik. Aber gibt es ein ‚Rest-Österreich‘ in diesen Texten?

17 Uhr
Vorträge und Diskussion
Günther Höfler: Ecce homo, id est mundus! Lebens- und Weltansichten von Köhlmeiers rhapsodisch-tintenklecksend durch die (Ideen-)Geschichte streunenden Kater Matou.
Köhlmeiers Matou präsentiert sich als (heikle) Erneuerung des eher unzeitgemäßen Genres Universalroman, d. h. als epische Großform, die (Auto-)Biographie, Entwicklungs-, Geschichts-, Ideen-, Abenteuer- und Metaroman mit dramatischen, balladesken und stimmungslyrischen Elementen sowie Popsongs verquickt. Auch inhaltlich zielt der – wie sein Kollege Murr mit der Kralle schreibende – Kater aufs Ganze. Da ist zum einen die Frage „Was ist der Mensch?“, auf die aus Katzenperspektive narrative, aber auch anthropologisch-philosophische Antworten gesucht werden. Zum anderen will der Erzähler, der seine sieben, zu unterschiedlichen Zeiten durchlebten Leben aufrollt, „Auskunft geben über zweihundertdreißig Jahre Matou“, nämlich über, so seine geplante Vorlesung, „die Aufklärung aus der Sicht eines Katers von der französischen Revolution bis zur Gegenwart“ – also gleichsam die Dialektik der Aufklärung narrativ reloaded. Der Vortrag analysiert die Anlage dieses literarischen Großprojekts und hinterfragt seine Geltungsansprüche.

Daniela Bartens: Über Leben. Die Zeit(en) in Gerhard Roths monumentalem Alterswerk „Die Imker“.
Mit seiner Poetik des Wiederanknüpfens hat Gerhard Roth über die Jahre ein Lebenswerk geschaffen, das in rekursiven Endlosschleifen gegen den Tod, das große Schweigen, aber auch Verschweigen von Millionen Toten und Ermordeten Einspruch erhebt und dabei das eigene Leben in einem komplexen Literarisierungsprozess in die Fiktion einschreibt. In Die Imker (2022) ist der Tod bereits eingetreten und ein nachgelassenes Manuskript des verstummten, „ver-rückten“ Imkersohns Lindner aus Roths gewichtigem Landläufigem Tod (1984) halluziniert eine beinahe menschenleere Welt nach der globalen Katastrophe. Wie sehr die verlebendigende Gegenwärtigkeit der Literatur die „Schwerkraft der Verhältnisse“ vor Augen führt und gleichzeitig ästhetisch aufzuheben vermag, soll in diesem Vortrag analysiert werden.

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