Wer macht in Graz heute Literatur und folgt dabei welchen Traditionslinien? Wie haben sich Schreibweisen verändert? Welche neuen Strömungen haben sich entwickelt und wie wurde das Bewährte fortgesetzt? Gibt es noch Bezugnahmen auf eine „Grazer Tradition“, in deren Rahmen die Stadt schon einmal als die „Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur“ bezeichnet wurde?
Symposium des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung.
9.00 Uhr – 10.30 Uhr
Bettina Rabelhofer: „Die Stille schien mir unerträglich“. Übersetztes und Unübersetztes in Nava Ebrahimis Roman „Sechzehn Wörter“
In Nava Ebrahimis Debutroman durchquert die Ich-Erzählerin Mona im Überblendungsbereich von Vergangenheit und Gegenwart, Großmutter und Mutter, Orient und Okzident unbekanntes und ungewusstes Terrain. Im Zuge der Sprach- und Erinnerungsarbeit der Protagonistin nimmt das Familiengeheimnis mehr und mehr an Kontur an: Mutterschaft im Kreuzungspunkt von Körper und Sprache changiert zwischen einer Identitätskatastrophe, die mit dem Unsagbaren kollaboriert, und der letztendlichen Einschreibung in eine soziosymbolische Ordnung, deren psychische Gravur nunmehr Befreiung aus der „Geiselhaft“ (S. 8) der Mutter-Sprache ahnen lässt. Die Fährte meiner Lektüre folgt dabei Intertextuellem und Globalem, sie folgt einer Spracharbeit, wie sie auch andere freiwillig und unfreiwillig Wandernde bei der Über-Setzung in die und das Fremde (das laut Freud auch immer das Alt-Vertraute ist) leisten. „Literatur ohne festen Wohnsitz“ (Ette) generiert Text als Umschlagplatz kultureller Zuschreibungen. Ebrahimis Text lässt durch die heterolinguale Konfrontation kultureller Ordnungsmuster die vermeintliche Kompaktheit von Sprache von innen her zerbrechlich scheinen und hebelt die automatisierte Beziehung von Begriff und Zeichen aus, wodurch das Nachdenken über sich selbst poetisch produktiv wird. Ich lese Ebrahimis Roman als eine Geschichte des ‚Spracherwerbs‘, die zugleich immer auch den Konstituierungsprozess von ‚Bedeutung‘ und personaler ‚Identität‘ flankiert. Das Verhältnis von Semiotischem und Symbolischem im kristevaschem Sinn wird so nicht nur als theoretisches gefasst, sondern durch den literarischen Schreibakt im Prozess der Selbstindividuierung, den ein denkendes und fühlendes Ich durchläuft, verlebendigt.
Bernhard Oberreither: Glitch-Ästhetik, Affekt-Poesie – Irritation und Tradition bei Clemens Setz
Der Motor von Clemens Setz’ Literatur ist die Irritation. Wir stoßen auf sie in der poetischen Textur seiner Werke, in gewagten Vergleichen oder unerwarteten Bildern; aber auch auf Handlungsebene: in Form von Systemfehlern („Glitches“), im aufgekündigten Zusammenhang („Nonseq“), im vereinsamten Ding („Thomassons“), nicht zuletzt in den Figuren mit ihren seltsamen Impulsen und Affekten. Auch darin steckt Poesie, und sie lässt sich unter Rückgriff auf poetische Kategorien ebenso beschreiben wie im Licht historischer Vorläufer.
10.45 – 12.15 Uhr
Alexandra Millner: Rauminhalte. Bemerkungen zu einigen Romanen von Olga Flor
Olga Flors Romane können durchwegs als gesellschaftskritische Literatur bezeichnet werden, wobei sich dies in jedem Detail ihrer Texte und jedes Mal auf eine andere Art und Weise bemerkbar macht. Das gilt auch für die Raum-Zeit-Struktur, die nicht nur dementsprechend inhaltlich aufgeladen ist, sondern diesbezüglich sogar eine zentrale Rolle spielt. Die These von der hochgradig semantisierten Raumgestaltung und Zeitstruktur als tragendes Element von Olga Flors Prosa soll an den Romanen Talschluss (2005), Kollateralschaden (2008) und Ich in Gelb (2015) erörtert werden.
Michael Schäfl: Grazer Stadtschreibertum ab 2000
Als Graz 1988 erstmals eine Stadtschreiberin einlud, versprach man sich nicht nur Impulse für die Literaturszene. Man wollte mit der Ernennung Libuše Moníkovás – 50 Jahre nach dem NS-Ehrentitel „Stadt der Volkserhebung“ und 20 Jahre nach dem Ende des Prager Frühlings – auch ein gesellschaftspolitisches Zeichen setzen. Ihr folgten vorwiegend KollegInnen aus dem deutschsprachigen Raum. Ab der Jahrtausendwende versuchte man den kulturellen Austausch internationaler zu gestalten, zunächst durch einen Schwerpunkt auf Osteuropa. Mit dem Kongolesen Fiston Mwanza Mujila kam 2009 erstmals ein Nicht-Europäer als Stadtschreiber nach Graz, 2016 wurde der Iraker Najem Wali prämiert. Doch ungeachtet welcher Herkunft die Gäste waren, ihre Bindung zur Stadt ging nach dem Stipendium nicht verloren. Viele AutorInnen machen literarische Stippvisiten, manche blieben und bereichern den künstlerischen Diskurs nachhaltig.
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