Graz 2000+. Neues aus der Hauptstadt der Literatur. Tag 1

Do 14.03.2019 / 9 Uhr
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Wer macht in Graz heute Literatur und folgt dabei welchen Traditionslinien? Wie haben sich Schreibweisen verändert? Welche neuen Strömungen haben sich entwickelt und wie wurde das Bewährte fortgesetzt? Gibt es noch Bezugnahmen auf eine „Grazer Tradition“, in deren Rahmen die Stadt schon einmal als die „Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur“ bezeichnet wurde?

Symposium des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung.

9.00 -10.45 Uhr

Wolfgang Straub: Grazer Gruppen. Setzungen und Zuschreibungen durch 50 Jahre
„Grazer Literatur nach 2000“ insinuiert, dass „Literatur“ und „Graz“ zusammengehören. Damit wird ein Topos fortgeschrieben, den Alfred Kolleritsch erstmals 1967 in manuskripte darlegte: die Grazer Gruppe. Auch der Hinweis, dass der Begriff mit Vorsicht zu genießen sei, bzw. die Frage, ob es denn so etwas wie eine „Grazer Literatur“ überhaupt gebe, sind Bestandteile dieses Topos. Der Vortrag versucht, die Entstehung des Topos, die Setzungen und Zuschreibungen nachzuzeichnen. Dabei sollen Kanonisierungsprozesse und literaturhistorische Zuschreibungen (die nicht zuletzt Abschreibungen sind) in den Blick genommen und die Literatursoziologie dahingehend befragt werden, welchen Zweck das Konzept von „Gruppen“ verfolgt und inwieweit das Bild der Sukzession, der Generationen in der Rede von der/den „Grazer Gruppe(n)“ wirksam wurde und in unsere Gegenwart hineinwirkt.

Gerald Lind: Avant-Pop und literarische Bubbles. Thesen zur jüngeren Grazer Literatur
Dieser Vortrag beschäftigt sich mit der jüngeren Grazer Literatur, zu der mit Graz verbundene AutorInnen im Alter von 25 bis 45 Jahren gezählt werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei einer teilweise beobachtbaren Ab- und Auflösung von Kategorien wie Avantgarde und Mainstream unter neuen, global-popkulturell geprägten Schreibweisen (Avant-Pop) gelten sowie vor diesem Hintergrund dem Verhältnis der literarischen Sub-Bubbles – also der verschiedenen Schreibcommunities – im Grazer literarischen Feld. Im Rahmen von kursorischen Überblicken sollen die Thesen anhand einiger exemplarischer Spotlights – zum Beispiel auf die Arbeiten von Max Höfler, Natascha Gangl, Cordula Simon und Stefan Schmitzer – belegt werden.

11.00 – 12.30 Uhr

Stephanie Lindner: Der Körper als Miniatur der Apokalypse
Im 21. Jahrhundert erleben Dystopien und apokalyptische Texte eine Hochphase. Allein im deutschsprachigen Raum wurden in den letzten 20 Jahren durchschnittlich 40 dystopische oder postapokalyptische Romane pro Jahr veröffentlicht. Der menschliche Körper als Symbol der düsteren Zukunftsszenarien nimmt dabei als Motiv einen besonderen Platz ein. In der Grazer Literatur taucht der dystopische Körper in den Endzeitromanen Ostrov Mogila (2013) von Cordula Simon und Winters Garten (2015) von Valerie Fritsch auf. In beiden Texten lässt sich in den Körpern der Romanfiguren eine Miniatur der Apokalypse erkennen, sie vermitteln sowohl Leben als auch Tod und Zerstörung. Der Vortrag widmet sich der Frage, in welcher Weise die Autorinnen die apokalyptische Handlung über körperliche Darstellungen und Motive transportieren.

Christian Teissl: Rückblick einer Nachwuchshoffnung a. D.
Jeder Zwanzigjährige finde in Graz aufmerksame Zuhörer, sobald er nur etwas zu sagen habe, notierte Robert Michel 1911. Dieser Befund trifft nach wie vor zu, hat sich die Szene seither auch von Grund auf verwandelt. War es zu Michels Zeit die Grazer Tagespresse, die dem literarischen Nachwuchs zu erster öffentlicher Anerkennung verhalf, so sind es heute vor allem die etablierten Literaturzeitschriften wie Lichtungen und manuskripte. Während der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Rolle als Mäzen und Vermittler in den vergangenen zwanzig Jahren weitgehend eingebüßt hat, haben sie an Bedeutung gewonnen. Zugleich sind die literarischen Gruppierungen, denen sie ihr Entstehen verdanken, historisch geworden, die ästhetischen Positionen austauschbar. Spätestens seit der Jahrtausendwende bestimmen Einzelgänger das literarische Feld, eine neue „Grazer Gruppe“ ist nicht in Sicht.

15.00 – 16.30 Uhr

Christian Neuhuber: nua ka schmoez ned – Tradition und Avantgarde in Ferdinand Schmalz‘ Dramen
Schmalz‘ Dramen haben vieles zu bieten. Selbst was sich nach H.C. Artmanns Diktum für progressive Literatur verbietet, findet sich in seinem Erstling am beispiel der butter nicht nur als Pseudonym, sondern auch als vergegenständlichte Metapher. Das Spiel mit dem scheinbar Vertrauten ist denn auch Prinzip dieser Stücke, die sich ungeniert aneignen, was traditionelles und modernes Theater aufzuweisen hat: das sentenzhafte Pathos der Hochstiltragödie ebenso wie den Slapstick der Boulevardkomödie, die Alltagsmiseren des sozialen Dramas, die Sinnverweigerung des absurden Theaters, die subtile Sprachhandlung des Konversationsstücks, die abgründige Vertrautheit des Volksstücks oder die Parabolik des epischen Theaters. Gemeinsam ist allen Stücken das Inkongruente als Möglichkeit komischer Erfahrung.

Evelyn Deutsch-Schreiner: Schreiben in „neodramatischen“ Zeiten: Johannes Schrettle und Gerhild Steinbuch
Johannes Schrettle und Gerhild Steinbuch wurden seit 2005 stets in einem Atemzug genannt: ein junger Dramatiker, eine junge Dramatikerin, auf denen bald die Hoffnung ruhte, die angeblich legendäre Grazer Literaturszene würde wieder erstehen. Steinbuch und Schrettle, beide Träger des Retzhofer Literaturpreises und Absolventen des Grazer UniT-Projekts „Szenisches Schreiben“, gelang überraschend schnell der Sprung in die deutschsprachige Theaterszene. Was die Presse als „Shooting Stars“ bezeichnet, bedeutet für die künstlerische Entwicklung nicht nur Positives. Beide reagierten darauf, indem sie nach alternativen Schreib- und Aufführungsstrategien suchten. Der Vortrag arbeitet das Besondere im Schreiben beider Autoren heraus.

16.45 – 18.15 Uhr

Gerhard Fuchs: In/aus/über Graz. Anthologien als Spiegel eines Generationswechsels
Das Jahr 2003 markiert für die Grazer Literatur in mehrfacher Hinsicht einen Umbruch: Die weitgehende „Kulturhauptstadt“-Negierung der „Grazer Gruppe“-AutorInnen bei gleichzeitigen Konflikten zwischen innerliterarischen Gruppierungen leitet eine Phase der Neuorientierung ein, die sich in den Anthologien rund um das seinerzeitige Jubeljahr – wie auch in den Folgejahren – ablesen lässt: neue Namen, neue Texte unterschiedlichster literarästhetischer Ausrichtung – eine Pluralisierung der Schreibweisen und Positionen, die sich am Neben- und Miteinander der jeweils versammelten Kurztexte beispielhaft ablesen lässt. Die Trennlinien zwischen einer neoavantgardistisch-„experimentellen“ Selbstverortung, einem realistischen Erzählen und dem Gottseibeiuns Unterhaltungsliteratur werden verwischt, die einzelnen AutorInnen zumindest im regionalen Literaturbetrieb kanonisiert.

Holger Englerth: Be- und Widerstand. Literaturzeitschriften in Graz ab 2000
Die Grazer Literaturzeitschriften beziehen seit der Jahrtausendwende unterschiedlichste Positionen zwischen Kontinuität und Innovation, Regionalität und Globalisierung, analoger Tradition und digitaler Moderne. Von den Neuankömmlingen, wie der Grazer Wandzeitung ausreißer und der Bildschirmzeitung GLORY HOLE, über die inhaltlich in den neunziger Jahren positionierten Titel Lichtungen, perspektive und Sterz bis zu den ungebrochen prominenten manuskripten – dem Postulat der abnehmenden Relevanz von Literatur wird in Graz mit Vehemenz widersprochen.

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